
Menschen
Wer das Thema Conterganskandal und Conterganschädigung verstehen will, muss sich mit den Menschen beschäftigen, die betroffen sind - oder die sich mit der Situation der Betroffenen auseinandersetzen. Darum stellt das Contergan-Infoportal immer wieder Zeitgenossinnen und Zeitgenossen persönlich vor. Dabei werden unterschiedlichste Aspekte behandelt, vor allem aber bemerkenswerte Lebensgeschichten beschrieben.
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„Oft muss man wieder bei null anfangen“, sagt Tilmann Kleinau. Der 59-jährige lebt in Stuttgart, ist promovierter Literaturwissenschaftler, arbeitet als Übersetzer und ist in seiner Freizeit ambitionierter Schlagzeuger einer Cover-Band. Und weil das nicht reicht, ist er auch noch Autor. Sein Buch, das vor einigen Jahren erschien, hat den Titel: „Ich schlag mich schon durch“. CIP hat ihn interviewt.
Herr Kleinau, haben Sie heute schon getrommelt?
Nein, heute nicht. Ich spiele auch nicht jeden Tag. Wegen Corona gibt es momentan auch keine Bandproben. Ich trommle derzeit allein, mit Kopfhörern, da nerve ich nicht die anderen Mieter. Musik mit der Band zu machen ist momentan leider etwas schwierig.
Aber Musik ist sehr wichtig für Sie?
Absolut. Aus der Musik, aus dem gemeinsamen Musikmachen, kann ich sehr viel Kraft ziehen. Es macht mir große Freude, mit anderen zusammen was zu machen. Wir spielen Rockmusik in einer Coverband. Da muss man sich mit jedem einzelnen Song auseinandersetzen. Was machen wir daraus? Wie gehe ich das als Drummer an? Und wenn das dann beim Zusammenspiel klappt, ist das einfach nur toll! Musik ist für mich Therapie, Selbstfindung und soziale Interaktion zugleich.
Musik macht die Menschen gleicher?
Meine Behinderung spielt da jedenfalls keine Rolle. Die Musiker neben mir verlieren ihre Scheu. Ich spiele ja nicht in einer Behinderten-Combo, sondern muss mir meinen Platz erkämpfen. Gerade im Amateurbereich gibt es ein Kommen und Gehen, da wird auch gekämpft, um dabei zu sein.
Stellen Sie sich vor, jemand mit meiner Behinderung bewirbt sich als Schlagzeuger! Da gibt es erst einmal kritische Blicke. Sie werden immer unterschätzt und müssen beweisen, dass es geht, dass sie das können. Selbst meinen Schlagzeuglehrer musste ich damals beknien, mir überhaupt zwei Stöcke in die Hand zu geben! Heute spiele ich seit über 40 Jahren Schlagzeug.
Das heißt, dass beide Seiten durchs Musikmachen voneinander lernen?
Schon, ja. Man kommt einerseits weg von der Haltung „Ach wie sieht der denn aus, kann der überhaupt einen Stock halten?!“. Wenn man anfängt zu spielen, merken andere dann schnell, dass ich das draufhabe. Für mich geht es darum, dass ich aufgrund meiner Behinderung lernen muss, Umwege zu machen. Da ich nun mal keine normalen Handgelenke habe, muss ich manchmal andere Lösungen für den Klang finden, die funktionieren. Wenn ich dann spiele, bin ich für die Zuhörer nicht mehr der Behinderte, sondern der Drummer.
„Mich interessierte die Darstellung von körperlicher Behinderung in der Literatur.“
Bevor wir zu Ihrem Beruf kommen, worum ging es in Ihrer Doktorarbeit?
Schon in meiner Magisterarbeit ging es um körperbehinderte Gestalten in der französischen Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts. Davon ausgehend habe ich in der Doktorarbeit Darstellung und Tabuisierung des menschlichen Körpers insgesamt. Ich kam durch meine eigene Behinderung darauf. Mich interessierte die Darstellung körperlicher Behinderung in der Literatur. Ich fragte mich: Warum lässt der Autor diese oder jene Figur behindert sein? Wie beschreibt er sie, wie ist sie angelegt? Was soll oder kann uns das sagen? Prominentestes Beispiel ist der Quasimodo von Notre Dame. Es gibt aber noch viele andere Figuren. Diese körperlich behinderten Charaktere habe ich verglichen und versucht, eine Chronologie ihrer Darstellung in der französischen Literatur zu erstellen. Was war zum Beispiel tabuisiert, warum und wann?
Heute arbeiten Sie als Übersetzer im Wirtschaftsbereich. Ist Sprache ihre große Leidenschaft?
Na, so einfach ist es nicht. Eigentlich war Übersetzen mein letzter Strohhalm und ist nicht mein Traumberuf. Zunächst ist meine Behinderung sehr ausgeprägt. Wenn Sie so kurze Arme und Beine haben, dann brauchen Sie von Beginn an eine gewisse Pflege. Und zwar dauernd. Das allein spielte eine große Rolle bei der Berufswahl. Ich wollte einfach einen Beruf ergreifen, wo ich mit Hilfe eines Studiums auch Geld verdienen kann. Literaturwissenschaft allein war da eher ungeeignet. Journalismus hätte mich auch gereizt. Doch dafür ist man im Rollstuhl zu wenig mobil. So bin ich immer mehr auf die Sprachen gekommen, weil man mit sprachlichen und linguistischen Kenntnissen in Heimarbeit Geld verdienen kann. Mein Spezialgebiet ist zwar die Wirtschaft, aber ich übersetze auch Texte zu anderen Themen.
Homeoffice ist also nichts Neues für Sie?
Im Gegenteil, es ist elementar. Die Auftragsvergabe läuft ziemlich globalisiert und über E-Mail. Wenn man vom Englischen und Französischen ins Deutsche übersetzt, konkurriert man allerdings mit Leuten aus anderen Ländern, die vielleicht ganz andere Lebenshaltungskosten haben. Ich habe hauptsächlich ausländische Kunden und internationale Unternehmen. Meistens geht es um interne oder externe Firmenkommunikation, um Pressemitteilungen oder Verträge. Seit einigen Jahren spezialisiere ich mich auf Personalwesen. Da spielt auch ein bisschen Psychologie hinein, und das interessiert mich wieder.
Sie müssen also ständig mental in Bewegung bleiben und flexibel sein?
Allein schon, weil die Rahmbedingungen heutzutage nicht mehr gut für freiberufliche Übersetzter sind. Wir werden im Preiskampf ständig runtergehandelt. Aber damit müssen ja viele Menschen leben. Auf der anderen Seite kann ich mich glücklich schätzen, dass ich grundsätzlich gerne mit dem Kopf arbeite und nicht etwa körperlich. Da haben andere weniger Glück. Ich habe zum Beispiel einen Freund mit Conterganschädigung, der liebend gerne Koch wäre. Ein anderer, ein Doktor der Chemie, durfte wegen der kurzen Arme nicht Laborleiter werden.
„Ämter oder Dienstleister sind zu dem am nettesten, der sie bezahlt.“
Über all das haben sie eine Autobiografie geschrieben. Was hat Sie angetrieben, selbst zu schreiben?
Schon immer haben Familienmitglieder und Freunde gesagt, schreib das mal auf! Sie fanden spannend, was ich zu erzählen hatte. Was ich erlebt habe mit meiner Conterganschädigung, die ganzen Schwierigkeiten im Alltag, aber auch die Erfolge im Leben. Sie meinten: Du hast so ein ungewöhnliches Leben und letztendlich hast Du es ins Positive gedreht, trotz der negativen Voraussetzungen. Ich habe mich lange geziert und wollte erst nicht. Aber ich habe mit Sprache, mit Geschriebenem zu tun. Da lag es eigentlich nicht so fern. Als ich dann angefangen hatte, schrieb es sich fast von allein.
Was gab am Ende den Ausschlag?
Das Buch war in erster Linie für Nichtbehinderte gedacht. Ich wollte erzählen, womit man zu kämpfen hat, was man alles bewältigen muss. Dinge, an die Nicht-Geschädigte nicht mal denken müssen. Ich finde, das ist mir ganz gut gelungen. Der meiste Zuspruch kam aber von Behinderten und anderen Contergangeschädigten. Für sie war es gut zu erleben, dass sie mit ihren Problemen und Sorgen nicht allein sind. Es hat ihnen Mut gegeben.
War das Schreiben von „Ich schlag mich schon durch!“ auch eine Art Trotz-Reaktion?
Das kann man so sagen, ja. Das mit dem Durchschlagen war das Grundmotiv. Ich habe mich mit vielen Themen, Anekdoten und Erlebnissen wieder auseinandersetzen müssen. Alles Geschehene noch mal zu ordnen, war hilfreich und ich kann jedem empfehlen, das zu machen. Das Buch sollte ursprünglich „Stufen“ heißen. Die Verleger wollten lieber was Griffigeres, womit sie wohl richtig lagen. Mein Leben verlief jedenfalls in Stufen, so habe ich es aufgefasst und so sind die Kapitel auch konzipiert. Als Stufen, als Schritte nach oben. Wie eine Treppe, die man raufgeht.
Auf welcher Stufe befinden Sie sich jetzt?
Ich bin bei guter Gesundheit und kann dank meiner drei Assistenzkräfte, ein einigermaßen geordnetes Leben führen. Dafür muss man allerdings sein Leben lang kämpfen, sich gegen Widerstände durchsetzen, Anträge stellen usw. und oft fängt man da wieder bei null an, weil sich Umstände ändern, Verordnungen kommen oder man neue Menschen neu überzeugen muss. Interessant finde ich immer wieder, dass man anders behandelt wird, wenn man etwas selbst bezahlt. Ämter oder Dienstleister sind zu demjenigen am nettesten, der bezahlt. Man muss als Mensch mit Behinderung sehr beschlagen sein. So bin ich für meinen Autohändler ein Kunde, für mein Sanitätshaus aber Patient. Die müssen nur nett zur Krankenkasse sein.
Sind neben der Conterganschädigung andere Einschränkungen hinzugekommen?
Ich habe eine chronische Krankheit dazubekommen, eine obstruktive Schlafapnoe. Eine Halsmuskelschwäche, bei der die Zunge im Liegen die Atmung blockiert und man deshalb immer wieder Aussetzer hat. Daher muss ich lebenslang nachts ein Atemgerät aufhaben. Tagsüber im Sitzen ist alles kein Problem. Aber das Problem haben viele Behinderte im Rollstuhl oder Übergewichtige allgemein. Damit muss ich leben. Aber es geht. Es muss.
Sie wurden nach Ihrer Geburt notgetauft. Bedeutet Ihnen Religion irgendetwas?
Ich bin evangelisch getauft worden und arbeite ehrenamtlich mit evangelischen oder christlichen Trägern zusammen und nutze ihre Dienste. Im kirchlichen Sinne gläubig bin ich jedoch nicht. Dabei wollte ich mal Theologie studieren.
Das Studium an sich wäre auch kein Problem gewesen. Doch man gab mir zu verstehen, dass ich niemals als Pfarrer arbeiten und eine Gemeinde haben könnte. Da hab ich das aufgegeben, denn darum wäre es mir ja gegangen: Seelsorge. Trotzdem sehe ich in meiner Behinderung eine Art „Sinn“ und lebe dementsprechend. Es muss da einen Sinn geben. Ich denke schon, dass jemand da draußen ist, der sich etwas bei all dem gedacht hat.
„Das Ende der Treppe ist noch nicht in Sicht!“
In Ihrem Buch formulieren Sie eine Reihe Forderungen und Wünsche an die Gesellschaft. Sind das heute noch die gleichen wie vor zehn Jahren?
Es hat sich schon einiges getan. Denken Sie an Inklusionsbestrebungen oder Barrierefreiheit. Wir haben jetzt ein Antidiskriminierungsgesetz. Fliegen ist für Menschen mit Behinderung kein großes Problem mehr. Beim Bahnfahren sieht es allerdings anders aus. Wenn Sie nicht schnell sind und sich laut bemerkbar machen, fährt der Zug weiter, bevor jemand eine Rampe ranschafft oder Ihnen anders in oder aus dem Zug hilft. Mehr Achtsamkeit ist aber nur einer meiner Wünsche an die Gesellschaft. Menschen mit Behinderung sind immer noch etwas unsichtbar. Ich wünsche mir auch mehr Unterstützung für Eltern, die sich bewusst entscheiden, ein behindertes Kind zu bekommen und großzuziehen. Und dass diese Kinder nicht automatisch in Sondereinrichtungen kommen, sondern nur, wenn es absolut erforderlich ist.
Es muss sich also auch politisch noch mehr tun?
Da gibt es eine Menge zu tun, ja. Meine Assistenten etwa müssten eigentlich viel besser bezahlt werden. Überhaupt Pflegeberufe und Leute, die mit Menschen arbeiten. Behinderte könnten viel mehr und auch andere Arbeiten übernehmen als nur in Behindertenwerkstätten. Gerade jetzt, wo so viel im Bereich Digitalisierung passiert. Im Internet ist ihre Behinderung ja egal. Wir bräuchten auch eine andere Assistenz-Gesetzgebung und den Grundsatz ambulant vor stationär. Es sollte niemand allein aus Kostengründen gezwungen sein, in ein Pflegeheim zu müssen. Pflegeeinrichtungen wiederum müssten öfter und unangekündigt überprüft werden – und vieles mehr.
Sie selbst haben mit fast 60 Jahren auch immer noch Pläne…
Ich bin schon jemand, der immer neue Herausforderungen sucht. Derzeit denke ich darüber nach, was ich als nächstes beruflich machen werde. Der Bereich Coaching und Beratung interessiert mich. Was ich mir auch gut vorstellen kann, ist mehr Musik zu machen, komponieren zu lernen, Songs und Stücke zu schreiben. Oder mehr eigene Texte schreiben, das könnte auch ein Thema sein. Sie sehen, das Ende der Treppe ist nicht in Sicht.
Die Autobiografie von Dr. Tilmann Kleinau ist vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich. Zum Beispiel im Online-Antiquariat www.zvab.com
© Foto: Carsten Büll

„Erst, als ich meine Conterganbehinderung bewusst akzeptiert hatte, ging es bei mir richtig aufwärts.“
Matthias Berg ist als Jurist, Sportler, Musiker, Referent und Coach erfolgreich. Ob er als Hornist die Konzertsäle der Welt bespielte, bei den Paralympics Medaillen gewann oder heute vor Führungskräften spricht und Menschen motiviert - immer treibt es ihn, das Beste herauszuholen. Natürlich habe ihn das Leben mit der Conterganschädigung geprägt, erzählt er CIP im Interview. „Es kommt aber nicht darauf an, wo das Schicksal dich hinsetzt, sondern was du draus machst!“.
Herr Berg, hatten Sie Ihr Lebensmotto schon von klein auf?
Es hat sich entwickelt, war aber auch irgendwie immer intuitiv vorhanden. Dabei waren sicherlich auch die Gene und das positive Vorleben der Eltern und Geschwister ausschlaggebend. Die Haltung, das Leben anzunehmen und das Beste draus zu machen, gibt es ja in vielerlei Ausprägungen und beginnt schon in der antiken Philosophie.
Also aus Zitronen Limonade machen...
Ja genau. Es geht auch nicht darum, jeden Fehlschlag schön zu reden, aber man muss sich mit ihm auseinandersetzen und dann von dort aus weitermachen. Nicht hadern, nicht das „Pechvogel-Syndrom“ kultivieren, sondern aktiv mit den Umständen umgehen. Ich habe das immer ganz gut hinbekommen, auch nach Tiefschlägen und Misserfolgen weiter an mir zu arbeiten.
Was mit einer Conterganschädigung keine leichte Aufgabe ist…
Das kommt dazu. Auch mir hat man als Kind „Krüppel“ hinterhergerufen oder „Kurzärmle, Kupferdächle“, wegen meiner rötlichen Haare. Oder jemand sagte: „Dich hätte man damals vergast!“. Das ist immer wieder mal passiert. Noch im Studium hat mir jemand hinterhergerufen: „Zum KZ geht’s linksrum!“ Dieses Ausgeliefertsein, dieses Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, ausgegrenzt zu sein, das alles hat in solchen Situationen sehr an mir genagt. Es hat Jahre gedauert, bis ich Anfang bis Mitte 20 war, damit gut umzugehen.
Wie haben Sie es letztlich geschafft?
Ein Freund hat mir mal gesagt: „Was kratzt es eine deutsche Eiche, wenn eine Wildsau sich an ihr reibt?!“ Und das stimmt ja auch. Du musst nur für dich klären, will ich Eiche oder Wildsau sein. Ein Bild der Stärke, des Drüberstehens, der inneren Gelassenheit. Lass es an Dir abtropfen, obwohl das schwer ist! Wenn andere mit Deiner Behinderung nicht klarkommen, ist das deren Sache. Erst, als ich selbst mit meiner Behinderung klargekommen bin und sie akzeptiert hatte, ging es aufwärts. Mit dem Sport, mit dem Beruf und im Leben insgesamt. Vielleicht habe ich auch viel Glück gehabt, denn ich bin von Haus aus ein positiv denkender Mensch. Das ist eine Grundhaltung.
Spielt das Thema Haltung bei der Motivation eine Rolle?
Ja. Ich verwende in meinen Trainings gerne das Zitat von Henry Ford: „Ob du glaubst, Du kannst es oder ob du glaubst Du kannst es nicht: Du wirst auf jeden Fall Recht behalten!“ Will heißen: Ich kann den Erfolg durch meine Haltung entscheidend steuern. Die innere Einstellung, die Haltung strahlt nach außen. Es geht um das Mindset, die Überzeugung zu entwickeln: Ich kriege das hin!
Und so kommt man auch mit Brüchen und Lebenskrisen klar?
Ich musste vor fünf Jahren meinen Beruf im Landratsamt Esslingen aufgeben. Ich war dort elfeinhalb Jahre als Stellvertreter des Landrats und Dezernent tätig und hatte große Personalverantwortung. Ich habe das sehr gerne gemacht. Aber wegen massiver Netzhautablösungen und durch viele Operationen musste ich das schweren Herzens aufgeben.
Und Ihr „Mindset“ hat Ihnen geholfen?
Ich habe dann die Arbeit als Speaker, Coach und die meiner Führungs-Seminare ausgebaut. Kein wirkliches Neuland für mich, weil ich das seit über 25 Jahren schon nebenberuflich mache, aber seitdem habe ich es intensiviert und professionalisiert. Mit meinem unfreiwilligen Ausstieg aus dem Beruf und der Frühpensionierung hatte ich zwar eine finanzielle Stütze, aber es fehlte fast die Hälfte des vorherigen Gehalts. Ich hatte und habe eine sechsköpfige Familie zu ernähren und ein Häuschen abzuzahlen, also muss ich auch weiter meine Brötchen verdienen. Daher habe ich diverse zertifizierte Ausbildungen absolviert, um als Coach, Speaker und Trainer der Beste zu werden, der ich sein kann. Das hat sich dann auch sehr erfreulich entwickelt. Auch hier war das Mindset wichtig. Mir etwas suchen, das mir Freude macht, das mich erfüllt, dann anpacken, durchhalten und das Talent immer weiterentwickeln. Und damit andere Menschen stark machen. Das ist es, was mich antreibt.
Sie bringen also auch eigene Lebenserfahrungen in die Coachings ein?
Das ist ein wichtiger Teil des Ganzen. Sie wirken ja glaubwürdiger bei dem, was Sie erzählen, wenn Sie es selbst durchlebt haben. Eine gewisse Lebensreife hilft dabei. Beim Coaching etwa, herauszufinden, wie man anderen Menschen helfen kann, das ist total gut!
Zurück zum Thema Haltung. Ist die jedem Menschen gegeben oder muss man auch das erlernen?
Zunächst hat jeder Mensch eine Haltung. Ob sie ihm schadet oder ihn voranbringt, steht auf einem anderen Blatt. Den Blick auf die eigene Haltung zu öffnen, sie bewusst zu betrachten und dann zu bewerten, ob sie seinem Ziel dient oder ihm im Weg steht, das ist der Sinn von Coaching. Gezielte Reflexion. Einerseits sind Menschen sehr verschieden, jeder tickt anders. Andererseits laufen viele genetisch angelegte Programme bei uns allen ähnlich ab. Zum Beispiel die Balance aus Essen, Schlafen und Bewegen. Oder dass wir soziale Wesen mit integriertem Team-Paradoxon sind: jeder will Mitglied einer Gruppe sein, aber innerhalb der Gruppe etwas Besonderes. Der Mix aus Genen, Erziehung und Erfahrungen macht uns dann aus. Und dann geht es darum, was jeder Mensch für eine Vision von seinem Leben hat, was ihm wichtig ist und wie er dahin kommen will. Und schon bist du als Coach mittendrin im prallen Leben. Als Coach bist du der Fragensteller und aus den gefundenen Antworten entwickelt der Coach dann seine ihm passende Haltung und seinen Fahrplan.
Wo liegt da der Unterschied zur Psychotherapie?
Der wesentliche Unterschied ist, dass der Psychotherapeut mehr nach den Ursachen forscht, nach etwas, das in der Vergangenheit, etwa der Kindheit, passiert ist. Wo liegen Traumata, wo tiefsitzende Enttäuschungen, Blockaden etc. Ich als Coach schaue nach vorne bzw. auf den Ist-Zustand: Wie ist es jetzt und wo soll es von hier aus hingehen? Das Vergangene ist nicht unwichtig, aber nicht so entscheidend. Ich will auch keine „Ausreden-Monstranz“ kultivieren, die man vor sich herträgt, indem man sagt: Deshalb bin ich eben so.
Das würden Sie auch für sich ablehnen?
Ganz genau. Die Menschen sehen meine kurzen Arme. Sie wissen, dass ich manche Dinge anders machen muss und vielleicht Diskriminierung erlebe. Aber das muss ich nicht thematisieren. Wir brauchen uns nicht gegenseitig im Leid zu suhlen. Das macht den Zugang zueinander auch einfacher.
Sie schließen von sich auf andere – sind Sie nicht doch eine Ausnahme?
Talent ist eine gute Starthilfe. Der Rest ist Arbeit, Beharrlichkeit und Fleiß. Auch das familiäre Umfeld spielt eine Rolle. Da hatte ich großes Glück, denn ich wurde dazu erzogen, mit meiner Conterganbehinderung die Dinge selbst anzugehen und mich dann durchzubeißen. Das Motto war: einfach ausprobieren, worauf man Lust hatte. Mit dem nötigen Gottvertrauen. Ob beim Radfahren oder auf Skiern. Ich wurde nicht in Watte gepackt. Die Disziplin, etwas zu erreichen, habe ich aber erst als Erwachsener im Studium erlangt. Dennoch bin ich überzeugt, dass jeder Mensch Talente hat. Was man noch braucht ist eine klare Vision und die Überzeugung: Das kriege ich hin!
Sie sagten eben Gottvertrauen. Spielt das Christsein für Sie eine Rolle?
Ja, ich bin Christ, evangelisch, und der Glaube ist meine feste Basis. Bei aller Haltung und Einstellung brauche ich am Ende etwas, worauf ich sicher stehe, was nicht wegbricht und nicht einstürzt, egal was passiert. Aber ganz unabhängig davon, ob jemand religiös ist oder nicht. Jede und jeder sollte auf irgendetwas oder jemanden vertrauen können, dass ihr oder ihm eine feste Basis gibt.
Hat Gott Sie mit Talenten ausgestattet?
Jeden von uns. Und ich habe die Verpflichtung, so meine Überzeugung, sie zu entdecken und zu nutzen und das Beste aus ihnen zu machen. Für mich ist die Frage entscheidend: Hast Du mit diesen Geschenken Menschen erreicht, ihr Leben besser, die Welt reicher gemacht? Ob man nun Talente, Geschenke, Voraussetzungen dazu sagt - was wir draus machen, ist das Entscheidende.
LINK:
Mehr zu Matthias Berg auf seiner Website www.matthias-berg.de
Sein Buch „Mach was draus! Mehr Kraft. Mehr Gelassenheit. Mehr Leben“ ist 2015 bei Goldmann erschienen (9,99€ als Taschenbuch). Das gebundene Buch des Gütersloher Verlags gibt es direkt bei ihm, natürlich mit Widmung (20,00€ inkl. Versand, gebundene Ausgabe). Email: mc.berg@t-online.de
© Foto: privat

Simone Danz ist Professorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Ihr Lebensweg wirkt stringent und ist dennoch voller Brüche. Glück und Mut sind wichtige Zutaten, dass ein Lebensweg gelingen kann, sagt sie. Als Conterganbetroffene und Wissenschaftlerin hat sie einen besonderen Blick auf Begriffe wie „Behinderung“ und „Inklusion“. Wir müssen „irritationsfähiger“ werden, so ihr Aufruf. Wie wichtig Begriffe sind, zeigt auch ihre Rolle als „Enthinderungsbeauftragte“.
Frau Dr. Danz, Sie waren lange in Indien, haben im Gartenbau und als Erzieherin gearbeitet und sind nun Professorin – wie könnte man Ihren Werdegang in wenigen Worten beschreiben?
Das ist sicher nicht einfach (lacht). Meine Biografie weist ein wunderbares Muster auf, aber da ist nichts von vornerein so geplant gewesen. Ich habe nach dem Abitur zunächst entschieden zu reisen, mal raus zu kommen, vielleicht eine Weltreise zu machen. Dann sollte es Indonesien werden, am Ende bin ich nach Indien gegangen. Dort habe ich drei Jahre lang viel erlebt und im Nachhinein glaube ich, es war genau richtig, dort gewesen zu sein. Erstens war ich ziemlich weit weg von zu Hause und habe so das Problem der Überbehütung umgangen. Und das zweite: in Indien ist es normal, eine sichtbare Behinderung zu haben.
Sie wurden dort mit Ihrer Conterganschädigung ganz anders wahrgenommen?
Ja, ich musste mich zwar erst daran gewöhnen, dass lauter Leute um mich rumstehen und fragen: Woher kommt das, tut das weh? Wenn das geklärt ist, gehen alle wieder weg. Eine ganz unbefangene Neugier, die ich in Deutschland so noch nicht gesehen hatte. Hier erntet man komische Blicke oder die Leute schauen betreten weg. In Indien wird es einfach akzeptiert. Man fragt: „Kann ich dir helfen, Schwester?“ und gut ist. Es gibt diese mildtätige Betroffenheit nicht. Kein schlechtes Gewissen, dass ich ein schlechter Mensch bin, wenn ich nicht helfe bzw. der gegenteilige Effekt, der sagt: behinderte Menschen wollen ja allein klarkommen. In Deutschland ist manches recht übergriffig. Ich habe aber in Indien auch mit Deutschen zusammengelebt. Diese Leute haben mich – zum ersten Mal in meinem Leben – ernst genommen und nicht übertrieben schonend behandelt.
Wieder zuhause wollten Sie mit Ihren Händen arbeiten …
Ja. Ich wollte nicht nur was mit dem Kopf machen und studieren, sondern zeigen, dass ich auch mit kurzen Armen richtig arbeiten kann. Ich habe dann in Hannover eine Gartenbaulehre in einer Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau gemacht. Es tat gut, mit einem Abschlusszeugnis da zu stehen. Doch ich wollte in dem Bereich dann doch nicht einfach weiterarbeiten.
Irgendwann kam dann doch die Wissenschaft in Ihr Leben?
Ja, das hat aber noch eine Weile gedauert. Ich hatte ein Faible für Pädagogik entwickelt. So habe ich zunächst eine Umschulung als Arbeitserzieherin und -therapeutin gemacht und dann in einer Ausbildungsgärtnerei so genannte „milieugeschädigte Jugendliche“ durch die Fachausbildung begleitet. Als ich auf die Idee kam, zu studieren, war ich schon 35. Auch das kam aus dem Drang der Veränderung heraus, weil meine Kolleginnen alle Studierte waren und ich die einzige Erzieherin war. Da gab es oft fachliche Konflikte. Also habe ich mir eine Stelle als Arbeitserzieherin in einer Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gesucht. So konnte ich neben meinen Abend- und Nachtdiensten parallel studieren.
Aber vom Studium zur Professur ist doch meistens ein langer Weg?
Ich habe dann 2015 nach 14 Jahren, in denen ich immer parallel voll gearbeitet habe, promoviert. Interessant ist, dass wieder der Zufall im Spiel war. Ich hatte parallel zur Berufstätigkeit immer Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, unter anderem in Berlin und Frankfurt, aber eben auch in Ludwigsburg an der evangelischen Hochschule. Von dort kam dann 2016 die Aufforderung, mich für die Professur zu bewerben.
Zehren Sie als Akademikerin von den früheren, eher praxis-orientierten Lebensstationen?
Ich glaube, dass ich mir als Wissenschaftlerin ganz gut dieses Bodenständige bewahrt habe - etwa durch das Gärtnern und weil ich lange Zeit mit Nicht-Akademikern und auch schwierigen, sozial eher abgehängten Leuten zu tun hatte. Verständigung ist mir wichtig, auch über unsichtbare Grenzen hinweg.
Abgehängte, Ausgeschlossene… Sie sprechen davon, dass so genannte Behinderungen nicht immer sichtbar sind.
In meinem ersten Buch „Behinderung – ein Begriff voller Hindernisse“ zeige ich, dass sich der Begriff Behinderung ursprünglich auf dingliche Hindernisse bezog, etwa der Verkehr oder ein Flusslauf war behindert. Das wurde dann auf Menschen angewandt. Man dachte, prima jetzt haben wir einen ganz neutralen Begriff. Aber dabei blieb es nicht lange. Es hat mich sehr interessiert, wie ein im Grunde neutrales Wort innerhalb von kurzer Zeit zum Schimpfwort wird. Behinderung weist auf menschliche Abhängigkeit und Hilfebedürftigkeit hin und wird daher eher als ein nicht erstrebenswerter Zustand verstanden.
Etwas sieht abweichend aus und ruft daher eine Abwehr hervor, etwas, das man nicht haben will. So bin ich über Denker wie [den französischen Psychoanalytiker, d. Red.] Jaques Lacan auf die dekonstruktivistische Sichtweise gekommen. Diese Sichtweise besagt, dass wir mit unseren Begriffen quasi huckepack immer noch eine symbolische Bedeutung mitliefern. Es ist eine kollektive Dynamik, die solche Begriffe bestimmt und auch verändert.
Eine Art Sprach-Evolution? Ähnlich wie beim Wort Krüppel…
Ja, genau. So ein Prozess ist natürlich immer viel komplexer, als dass man ihn so einfach darstellen könnte. Die Bezeichnung „Behinderte“ hat nach dem Krieg den Begriff „Krüppel“ abgelöst. Das Wort Krüppel, ehedem auch ein eher neutraler Begriff aus der Botanik, hatte seine Renaissance in den 80er Jahren, als die Selbsthilfeleute eine „Krüppel-Bewegung“ ausriefen und voller Stolz sagten, sie seien Krüppel. Das zeigt: es gibt immer verschiedene Strömungen, auch im Bereich der Aneignung von Begriffen, die mal anders intendiert waren. Diese Mechanismen aufzuspüren, war auch das Thema meiner Dissertation. Wo finden sich also Abwehrstrukturen im Subjekt, im Individuum und wie verläuft der Weg entwicklungspsychologisch? Und: wo findet sich das Gleiche im kollektiven Verständnis? Wie gestalten sich dadurch die gemeinsamen Vorstellungen von Erstrebenswertem und Normalität.
Wir sind alle eingebunden in kollektive Normalitätsvorstellungen. Eigentlich kann niemand diesen voll entsprechen, aber Behinderte entsprechen ihnen schon mal gar nicht. Kollektive Vorstellungen und deren Abweichung prägen unser Verhalten. Die Nicht-Behinderten gehen daher mit gewissen Normalitätsanforderungen auf behinderte Menschen um oder vermeiden den Kontakt.
Damit sind wir dann schnell beim Thema Inklusion?
Es muss darum gehen, dass niemand von Teilhabe ausgeschlossen wird. Nimmt man Ziel Nummer vier der Sustainable Developement Goals der Vereinten Nationen*, geht es daher eher um die Vermeidung von Exklusion durch unterschiedliche Risiken wie Behinderung, Armut, Alter, Geschlecht etc., also um das Vermeiden von Ausschlusskriterien, wie eben Behinderung jedweder Art. Wir müssen also darauf achten, behinderte Menschen so zu behandeln, wie sie es brauchen und nicht, wie wir denken, dass sie es vermeintlich brauchen oder sollten. Ich bin das beste Beispiel: Ich könnte mit so langen Armen gar nichts anfangen. Also ist es Unsinn, mir etwa eine Prothese anzufertigen. Ich frage mich eher, wie man mit so langen Armen schreiben oder Fahrrad fahren kann.
[*Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung sind politische Zielsetzungen der Vereinten Nationen, welche weltweit der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen sollen. Anm. d. R.]
Sie würden den Begriff der Inklusion also am liebsten nicht mehr verwenden?
Ich würde schon erklären wollen, was ich darunter verstehe. Inklusion, Integration diese Begriffe sind allerdings gerade schon wieder dabei, „verbrannt“ zu werden. Die Frage ist tatsächlich: Wie kann man in einem System von Leistungs- und Selektionsorientierung wie dem unseren ernsthaft glauben, man könne so was wie Inklusion erfolgreich realisieren, ohne an der Basis und am Selbstverständnis der Gesellschaft etwas zu ändern?! Daher sage ich, dass Inklusion immer bedeutet, Exklusionsgefahren zu minimieren. Es geht nicht darum, dass das Individuum sich anpassen muss. Es geht um die Anpassungsfähigkeit des aufnehmenden Systems – hier muss sich dringend was ändern.
Passend dazu sind Sie an Ihrer Hochschule auch „Enthinderungsbeauftragte“. Was bedeutet das?
Das war ein gewisser Kampf, diese Bezeichnung an behördlicher Stelle durchzusetzen. Mein Vorgänger im Amt, Professor Jo Jerg, hat das geschafft. Schauen wir uns den Begriff aber mal an, so trifft er doch genau ins Schwarze: Es braucht Menschen, die dafür sorgen, dass eben „Ent-Hinderung“ stattfindet. Ich verfasse gerade auch ein Lehrbuch dazu. Der Begriff ist also raus in der Welt und zieht seine Kreise.
Sie sehen das Thema Behinderung in einem größeren Zusammenhang und sagen: Behinderung kann jede und jeden betreffen und irgendwo sind wir alle in unseren Fähigkeiten begrenzt?
Wir alle müssen Grenzen akzeptieren, unsere Verletzlichkeit und unser Ausgeliefertsein annehmen. Die gesamte Menschheit ist letztlich begrenzt. Wenn wir uns unsere Normalitätskonstruktionen anschauen, die Leistungs- und Selektionsordnungen, dann sehen wir, dass „höher-schneller-weiter“ augenscheinlich langsam ausgedient hat. Die Grenzen des Wachstums sind real und die Verletzlichkeit der Ökosysteme wird deutlich. Von daher würde ich schon sagen, dass es nur darum gehen kann, anzuerkennen dass wir alle begrenzt – sprich: behindert sind – und dringend lernen müssen, allgemein Verletzlichkeit und Abhängigkeit zu akzeptieren und anzuerkennen.
Lapidar gesagt: Nobody’s perfect
Das sowieso. Aber auch ganz konkret können alle von heute auf morgen zu Behinderten werden. Sei es durch Alter, Unfall oder Krankheit. Die Realität ist ja, dass wir nur zeitweise nicht behindert sind. Und jede „Behinderung“ durchbricht wiederum die Normerwartung innerhalb der kapitalistischen Verwertungslogik und kann nicht mehr passen. Wir alle sind abhängig. Das müssen wir einsehen. Dann würde die vorübergehende Fantasie wegfallen, wir seien unverletzlich. Da brauchen wir auch andere Anerkennungsprozesse. Es müssen andere Dinge chic werden.
Wie wollen wir das erreichen? Müssen wir nicht unser komplettes Bewusstsein ändern?
Das ist ja schon mehrmals in der Menschheitsgeschichte geschehen, dass das kollektive Bewusstsein Sprünge macht. Es gibt viele Ansatzpunkte. In der Pädagogik etwa, ich nenne es „360-Grad Diagnostik“, die den Menschen in seinem gesamten Umfeld sieht. Das System Schule muss diagnostiziert werden. Die Peers, also die Mitschülerinnen und Mitschüler, müssen als Ressource wichtiger werden. Man muss drauf abzielen, wer kann was, wer kann es den Schwächeren erklären? Und: Schwach zu sein, darf nicht mehr belächelt werden. Wir müssen auch wegkommen von den ganzen Fachkräften, die jemanden nur beigestellt werden und am Ende alles nur schlimmer machen und die Verbesonderung noch mehr manifestieren. Man muss fragen, was die Betroffenen wirklich brauchen und ein solidarisches Gespür dafür entwickeln, um sich nicht zu schnell scheinbar zu sicher zu sein, was sie haben sollten. Ich sage immer mit Wolfgang Klafki, einem bekannten deutschen Erziehungswissenschaftler: Selbstbestimmung und Mitbestimmung darf nur zusammen mit Solidaritätsfähigkeit erlangt werden.
© Foto: Verena Müller

In Frankfurt geboren, in Frankfurt geblieben. So fasst Antje Kratz ihr Leben kurz zusammen. Doch das ist reines Understatement. Denn die bald 60-jährige blickt trotz dieser Heimattreue auf ein erfolgreiches und erfülltes Leben als Künstlerin zurück – nicht nur in Frankfurt. Auch mit ihrer Conterganschädigung hat sie es geschafft, sich selbst und vor allem der Kunst treu zu bleiben.
„Ich kann mich an ein Leben ohne Kunst eigentlich gar nicht mehr erinnern“, sagt Antje Kratz. „Schon in der Schulzeit hat sie mich fasziniert, gepackt und dann nicht mehr losgelassen. Ich war damals auf einer Körperbehindertenschule, wo Kunst- und Werkunterricht angeboten wurden. Damit fing es alles an.“ Dadurch, dass sie durch Contergan keine Arme hat, war Antje Kratz sehr früh schon darauf angewiesen, ihre Beine und Füße einzusetzen. „So habe ich eben alles mit den Füßen erlernt: von alltäglichen Handgriffen bis zum Malen.“ Ein Praktikum im Büro habe sie auch absolviert. Dabei sei ihr aber schnell klar geworden, dass das nichts für sie sei.
Von den Städtischen Bühnen an die Staffelei
Antje Kratz hat schnell erkannt, wie viel von ihrem eigenen Engagement abhängt. Allerdings, so hebt sie hervor, braucht man auch Glück. Ein solcher Glücksfall ergab sich durch den Kontakt zu den Städtischen Bühnen Frankfurt: „Nach meinem Schulabschluss Ende der Siebzigerjahre habe ich bei den Städtischen Bühnen vorgesprochen, und der damalige Leiter, Hermann Haindl, war entweder trotz oder gerade wegen meiner Behinderung angetan von mir und hat mich sofort unterstützt. So konnte ich ein Volontariat im Malersaal machen.“ Auf diesem Wege hat sie dann viel über Malerei gelernt - wie etwa Materialkunde, das Farbenmischen oder wie Bühnenbilder für das Theater entstehen. „Die Bühnenbildnerei hätte mich natürlich auch brennend interessiert. Doch das war aufgrund meiner körperlichen Einschränkung als Beruf leider nicht machbar.“
Im Anschluss an das Volontariat wurde sie weiter privat von Hermann Haindl ausgebildet. In diese Zeit fallen auch Studienreisen, etwa in die Toskana, wo Antje Kratz sich auch erstmals intensiv mit anderen Künstlerinnen und Künstlern austauschen konnte. „Das war eine schöne Zeit, in der ich viel gelernt habe und noch heute von zehre“, berichtet sie. Irgendwann in diesen Tagen hat sie dann den Entschluss gefasst, das mit der Kunst soll nicht nur Leidenschaft sein, sondern auch für den Lebensunterhalt sorgen.
So bewarb sie sich mit einigen frühen Werken bei der Vereinigung der mund- und fußmalenden Künstler in aller Welt e. V. (VDMFK). „Im Zuge dessen habe ich dann auch andere Menschen mit Contergangeschädigung kennengelernt, etwa aus England“, sagt Antje Kratz, die heute zu den fünf Vollmitgliedern des VDMFK in Deutschland gehört. „Da die Vereinigung international aktiv und gut vernetzt ist, bekommt man natürlich ein recht breites Publikum. Es ist ja schwer genug, die Menschen mit den eigenen Werken zu erreichen. Das ist schon ein großer Vorteil.“ Durch ein monatliches Honorar der Vereinigung und die Conterganrente ist sie finanziell abgesichert und kann sich ganz der Kunst widmen. Teilweise sieht man ihre Bilder auf internationalen Ausstellungen. Ebenso gibt es Kunstdrucke, Kalender oder Postkartenmotive.
„Alles kann eine Inspiration sein“
Zwar hat sie sich in den frühen Achtzigern auf die Fußmalerei spezialisiert und malt in der Hauptsache mit Ölfarben. Dennoch ist sie offen für alle möglichen Kunst- und Ausdrucksformen. Vom Modellieren mit Ton oder Holz bis hin zum Ballett hat sie Vieles ausprobiert. Dem Tanzen ist sie länger treu geblieben. „Es ist lange her, dass ich selbst Ballett getanzt habe. Aber eine ganze Zeit lang war auch das ein wichtiger Teil in meinem Leben.“ Als Jugendliche hat sie angefangen und ist bis in ihre späten Zwanziger dabeigeblieben. „Meine Mutter war sehr daran interessiert, dass ich meinen Körper kennenlerne und mit anderen Nicht-Behinderten zusammen bin.“ Auch hier wieder entscheidend: Die Unterstützung durch eine Lehrerin wie die Akzeptanz durch die anderen Balletttänzerinnen.
Woher bekommt sie die für ihre Kunst so wichtige Inspiration? Emil Nolde und van Gogh nennt sie als Favoriten, die sie aber nicht nachahmt. „Man kann sich durch alles Mögliche inspirieren lassen. Ein Erlebnis, ein Foto - und nicht immer ist offenkundig, was einen beschäftigt und dann seinen Weg auf die Leinwand findet“, sagt Antje Kratz. Inspirationen sammelt die Künstlerin auch auf den Reisen, die sie mit Ihrem Ehemann unternimmt. Die beiden haben auf Sizilien geheiratet. Der gelernte Metzger fotografiert gerne, was dann am Ende ein Anfang für ein Bild seiner Ehefrau sein kann.
Beweglich bleiben ist das Wichtigste
Contergan, die Conterganschädigung und die damit verbundenen Kämpfe und Einschränkungen spielen in ihren Bildern keine Rolle. Und sie fährt nach eigenem Bekunden gut damit, die beiden Bereiche strikt zu trennen. Die Kunst zählt, nicht die Rahmenbedingungen, unter denen sie entsteht. Ein Bild muss für sich stehen können.
In diesem Jahr wird Antje Kratz 60. Was wünscht sich die engagierte Künstlerin für die Zukunft? „Beweglichkeit ist das Wichtigste. Ich wünsche mir, dass ich körperlich einigermaßen fit bleibe - auch im Kopf - und so weiterhin meine Sachen machen und bald wieder reisen kann.“ Sicherlich würde Vieles mit zunehmendem Alter beschwerlicher. „Das lange Sitzen auf dem Steiß, die Körperhaltung beim Malen mit den Füßen, all das geht nicht mehr so leicht wie früher.“ Dennoch ist sie weit davon entfernt, einen Groll zu hegen oder mit ihrem Schicksal zu hadern: „Es ist alles glatt gelaufen. Ich habe eine Conterganschädigung, ja. Ich habe keine Arme. Das ist eben so und das habe ich früh akzeptiert.“ Gleichwohl ist ihr klar, dass sie auch Glück hatte. „Ich kann mich glücklich schätzen, dass das alles so gut geklappt hat. Ich kann von meinen Fähigkeiten leben, meine Gabe ausleben. Das Malen ist meine Passion und mein Beruf. In einem Büro wäre ich kreuzunglücklich geworden.“
© Foto: Antje Kratz

Der Cartoonist Phil Hubbe über seine Arbeit, die eigene MS-Erkrankung, seine Freundschaft zu dem Contergangeschädigten Matthias Berg und den jüngst erschienenen achten Band seiner „Behinderten Cartoons“.
Ein Mann ohne Arme liegt erschossen auf dem Boden, hinter ihm zwei Polizisten. Der eine fragt den Kollegen, ob das sein musste. Der bejaht, schließlich sei der Verfolgte der Aufforderung „Hände hoch!“ nicht nachgekommen. Bitterböse und überzogen einerseits, in seiner Tragik grotesk und daher auch witzig. So sind viele der „Behinderten Cartoons“ von Phil Hubbe. In knapp drei Jahrzehnten hat sich der Magdeburger einen Namen gemacht. Fast täglich erscheinen seine Zeichnungen in Zeitungen und auf Websites, illustrieren Broschüren oder sind bei Ausstellungen zu sehen. CIP hat mit dem 55-jährigen Karikaturisten gesprochen.
Herr Hubbe, was ist ein „behinderter Cartoon“?
Es ist ein Wortspiel, das ganz gut zusammenfasst, worum es geht. Um die Thematik, die meine Cartoons betreffen: die Welt der Menschen mit Behinderung. Die Cartoons selbst sind natürlich nicht behindert.
Sie würden also von sich weisen, dass man über Behinderungen nicht lachen darf?
Ja, das würde ich definitiv. Offenbar sehen es auch die betroffenen Menschen so. Sie geben mir recht, man kann und darf darüber lachen. Es ist ja nicht so, dass ich mich über die Menschen oder ihre jeweilige Behinderung selbst lustig mache. Es sind eher die Situationen, in die sie geraten. Etwa wenn eine Behinderung auf vermeintlich Normales trifft. Das reicht vom banalen Witz bis zum hintergründigen Lacher, der auf einer anderen Ebene funktioniert.
Kritik und Widerspruch sind dennoch wichtig. Wenn das, was ich mache, allen immer gefällt, mach ich was falsch. Was ich allerdings nicht mag, ist, wenn es heißt: Das macht man nicht. Damit kann ich nichts anfangen. Man sollte sich nicht vorschreiben, was „man“ macht.
Wie wurden die Cartoons zu Ihrem Lebensinhalt und -unterhalt?
Ich bin seit den frühen 90ern selbstständiger Cartoonist und Zeichner. Als ich anfing, war ich mir noch nicht sicher, was ich mir erlauben kann. Darf ich einen Witz über Rollstuhlfahrer machen, ohne selbst einer zu sein? Ich habe daher erst mal getestet, was Betroffene davon halten. Die allermeisten waren begeistert, hatten sogar Tipps und eigene Ideen. So hat sich das entwickelt, und ich habe immer mehr zu meinem Stil gefunden.
Gab dabei auch Ihre eigene MS-Erkrankung den Ausschlag?
Ja, auch. Definitiv. Die Erstdiagnose Multiple Sklerose bekam ich gerade, als ich mein Mathe-Studium aufgegeben hatte, um Grafiker zu werden. Eine Inspiration war sicherlich der US-Amerikaner John Callahan, der in den 1990er Jahren im Magazin New Yorker die ersten Cartoons mit dem Thema Behinderung veröffentlicht hatte. Da gab es zunächst einen großen Aufschrei, wie man denn so etwas bloß machen könne. Aber er selbst saß nach einem Unfall querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Sein Punkt war immer: Ich weiß, wovon ich rede bzw. zeichne. Dieser Ansatz hat meine eigene Motivation gestärkt und so habe ich, auch ermutigt durch Freunde, angefangen, meine eigene Erkrankung zu thematisieren. Das Entscheidende ist, dass man sich auskennt, dass man eben weiß, worüber man schreibt, redet oder eben zeichnet. Nur dann kann es gut werden. Man muss nicht zwingend selbst betroffen sein. Aber man sollte Ahnung davon haben.
Und so ist die Figur „MS Rainer“ entstanden, von dem es ja ganze Comic Strips gibt?
Ich wurde gefragt, ob ich selbst dieser MS Rainer sei. Von da an hat sich die Figur immer weiterentwickelt. Mit ihm als Hauptfigur ist ja dann sogar ein ganzer Band der „Behinderten Cartoons“ entstanden.
MS Rainer sitzt im Rollstuhl. Nicht alle Krankheiten oder Behinderungen lassen sich leicht in Zeichnungen darstellen.
Der Rollstuhl ist Sinnbild für die körperliche Behinderung an sich. Auch, wenn man mir das auch schon zum Vorwurf gemacht hat, dass es weit mehr gibt als Rollstühle, ohne diese Stereotypen und Überzeichnungen kommt man nicht aus. So hat der Blinde die schwarze Sonnenbrille und die drei Punkte am Arm – obwohl kein Blinder mehr so herumläuft – eine Gehbehinderung zeigt man mit einer Krücke usw. Unter meinen Fans sind auch Gehörlose, die schon angemerkt haben, dass ich sie immer mit Hörrohr darstelle. Okay. Aber wie soll ich es sonst machen? Ein modernes Hörgerät sieht man nicht. Auch psychische Erkrankungen sind schwer darzustellen. Das geht nur über Sprechblasen oder die Kulisse. Es muss halt schnell erfassbar sein. Die Grenzen, was ist Behinderung, was ist Krankheit, wer gilt als „behindert“ und wer warum nicht, die sind zudem fließend.
Es kommt auch vor, dass Betroffene die Kritik geäußert haben, über ihre Erkrankung oder Behinderung gäbe es noch nichts, ich solle mal machen. Das ist dann die schönste Kritik für mich. Eine Form der Inklusion, so gesehen: Auch über uns soll es Witze geben!
Eine schöne Überleitung. Der kürzlich erschienene 8. Band „Behinderte Cartoons“ heißt „Zeugen der Inklusion“. Inwiefern sind Sie selbst ein solcher Zeuge?
Einmal kriege ich eine Menge mit, weil ich ja selbst MS habe. Oft wundern sich die Leute, dass ich nicht im Rollstuhl sitze. Meine Arbeiten werden häufig für das Thema Inklusion genutzt. Etwa, um auf witzige Art auf ein Problem aufmerksam zu machen. Ich kann zeigen, was zum Thema getan wird und was vor allem noch zu tun ist.
Vom Komödiantischen her: Wo finden wir denn was, das nicht auch zum Lachen wäre?! Das fängt schon mit dem Wort „Inklusion“ an. Der Begriff ist total schwammig, jeder stellt sich was anderes darunter vor. Es ist ein Begriff, der politisch und gesellschaftlich sicher gut gemeint ist, aber eben sehr viel Komisches hervorbringt. Gut für meine Arbeit.
Zu ihren Fans gehört Matthias Berg, ein Mensch mit Conterganschädigung. Wie kam es zu Ihrer Freundschaft?
Matthias und ich haben vor fast 20 Jahren an einer gemeinsamen Veranstaltung der Evangelischen Akademie in Bad Boll teilgenommen, bei der ich einige Cartoons ausgestellt habe. Bei einer Talkrunde, wo Matthias als Musiker geladen war, haben wir uns dann kennengelernt. Matthias war sehr angetan von den Zeichnungen, und so sind wir ins Gespräch gekommen. Danach blieb der Kontakt bestehen und es ist eine Freundschaft entstanden. Er nutzt bei seinen eigenen Veranstaltungen Arbeiten von mir und hat schon eine Ausstellung damit in Baden-Württemberg eröffnet. Wir sehen uns zwar leider selten persönlich. Umso schöner war es, dass er trotz Corona hierherkam und mit mir zusammen die Buchvorstellung zum neuen Cartoon-Band per Live-Stream gemacht hat.
Sie haben auch gemeinsam für das ZDF gearbeitet.
Genau. Matthias war damals Kommentator bei den Paralympics in Peking 2008 und hatte vorgeschlagen, dass ich für den Online-Auftritt Cartoons machen sollte. Das Besondere war, dass die Zuschauer gebeten wurden, die Sprechblasen auszufüllen. Dabei sind sehr schöne Ergebnisse herausgekommen. Es kam so gut an, dass im Zuge dessen die Sportredaktion des ZDF auch unabhängig von den Paralympics auf mich zukam. Das sind so Sachen, die ich mit Matthias verbinde und ihm verdanke.
Spielt das Thema Contergan in den Cartoons konkret eine Rolle?
Es gibt Cartoons mit kurzarmigen Menschen oder Menschen ohne Arme bzw. Beine. Einmal gab es eine Ausstellung mit der Rubrik „Ohne Arme Cartoons“, da konnte ich einiges zu beisteuern. Was die Ursache für die Arm- oder Beinlosigkeit ist, bleibt offen und spielt für den Witz oder das Verständnis der Zeichnung keine Rolle. Es geht immer um die Situation dieser Menschen.
Gibt es Tabuthemen für Sie?
Wahrscheinlich nicht. Ich bewege mich in dem Rahmen, in dem ich mich auskenne. Ich überlege allerdings sehr oft, ob ich das oder das jetzt tatsächlich bringen kann. Wenn ich mir unsicher bin, zeige ich es rum oder poste es auf Facebook und bin oft erstaunt, was die Leute darin sehen. Manchmal ist meine Befürchtung völlig unbegründet. Manchmal steigern sich die Menschen auch sehr hinein. Doch wie eingangs gesagt, ich mache mich nicht über Menschen oder deren Behinderung lustig.
Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Ich lebe und arbeite seit fast 30 Jahren als freischaffender Künstler. Insofern habe ich durchaus Glück gehabt, trotz meiner MS-Erkrankung meine Leidenschaft zu meinem Beruf gemacht zu haben. Von daher hoffe ich, dass es noch möglichst lange so bleibt. Ich lebe mit der Krankheit und weiß nicht, was sie noch mit mir vorhat. Ich brauche meine Arme und Hände. Wenn ich anfangen würde zu zittern, wäre das schlecht.
Und für uns alle?
Dass wir immer über alles lachen können und auch dürfen.
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Webseite des Cartoonisten Phil Hubbe
© Foto: Phil Hubbe

Nicht immer war es Kindern mit Conterganschädigung vergönnt, in einem kämpferischen Elternhaus aufzuwachsen und trotz aller Widrigkeiten unter guten Rahmenbedingungen zu leben, die ihrer Situation gerecht wurden. Manche von ihnen fielen durch sämtliche Raster. Sie brauchten dann Menschen, die sich für sie einsetzten. So wie bei Thomas.
Renate Zuhrt und Thomas G., ein Mensch mit Conterganschädigung, verbindet eine lange gemeinsame Geschichte. Seit über 50 Jahren besteht eine enge Verbindung, verbringen beide Zeit miteinander, verreisen gemeinsam. Trotz räumlicher Distanz und juristischer Querelen hat Renate Zuhrt vor über 30 Jahren die Vormundschaft für Thomas übernommen. Wir haben die pensionierte Krankengymnastin befragt: Wie kam es zu der Verbindung? Wie war das damals, wie ist es heute? Was hat sie bewogen, sich Thomas anzunehmen und was wünscht sie sich für seine Zukunft?
Eine Sache der Chemie
Kennengelernt haben sich die beiden in Hannover. „Das war im Annastift, einem orthopädischen Krankenhaus mit angegliederter Körperbehindertenschule und Internat“, erzählt Renate Zuhrt. Seit Mitte der 1960er Jahre arbeitete sie dort als Krankengymnastin und Bewegungstherapeutin. Der in Salzgitter geborene Thomas, ein kleiner Junge mit Conterganschädigung, war damals auf der Kinderstation des Krankenhauses untergebracht und lebte dort. Der gesamte Komplex des Annastifts blühte nun, nach der Zeit im Nationalsozialismus, wieder auf. In der Klinik kümmerte man sich so gut man konnte – und eben wusste – um Kinder mit körperlicher Beeinträchtigung und seltenen Erkrankungen. Darunter Muskelschwund, TBC, Poliomyelitis und sogenannte Spastiken. Vieles war neu.
Der damals sechsjährige Thomas war von seinen Eltern schon als Säugling abgegeben worden. Sie konnten mit dem kleinen Bündel und seinen durch Contergan bedingten Schädigungen nicht umgehen und machten ihn zu einem sogenannten Sozialwaisen. „Als Krankengymnastin und Bewegungstherapeutin sorgte ich dafür, dass sich die Kinder auch mal ohne ihre Schienen und Apparaturen austoben und körperlich erfahren konnten“, berichtet Zuhrt.
Hier war Thomas zunächst gar nicht dabei. Dennoch hat die Krankengymnastin ihn gelegentlich im Haus wahrgenommen. „Zum Leidwesen der Schwestern war er sehr unruhig, lief umher oder beobachtete die Menschen bei ihrem Tun. Etwa im Schwimmbad. Thomas war sehr eigensinnig und hatte seinen eigenen Kopf“, erinnert sie sich. „Irgendwann kam eine Heilpädagogin auf die Idee, ihn doch in meine Gruppe zu integrieren und bat mich, Thomas auch nachmittags per Einzelunterricht zu fördern, etwa Übungen wie Dreiradfahren oder Zielwerfen. So haben wir uns dann kennengelernt.“ Und irgendwie fanden die beiden immer mehr einen Draht zueinander. Die Chemie stimmte, irgendwas lag in der Luft.
Das Wort „Mutter“ ist ihm unbekannt
Die Bewegungstherapeutin spricht davon, dass sie schnell gespürt habe, dass hier ein sensibler Mensch heranwächst, zu dem man zwar schwer Zugang finden konnte, weil er in seiner eigenen Welt lebte, der aber offenbar Schwingungen zwischen Menschen wahrnehmen konnte, die anderen nicht auffielen oder bewusst waren. „Diese Fähigkeit hat er wohl durch seine Unfähigkeit zu hören und zu sprechen entwickelt.“ Die Taubstummheit war neben einer Gesichtslähmung und der Deformation der Gliedmaßen die schwerwiegendste von Thomas‘ Conterganschädigungen. „Gefühlsäußerungen durch Sprache sowie durch Mimik waren Thomas von Kind an unmöglich, ebenso wie Gestik. Das prägt natürlich, gerade als kleines Kind.“ Und dann kein Elternhaus, keine Geschwister, Verwandte oder Nachbarn. Nur Fremde, die sich von Berufswegen kümmerten. Freunde: Fehlanzeige. Auch das Wort Mutter war Thomas unbekannt, seine Bedeutung ihm völlig fremd. Motorisch, wenn es etwa ums Anziehen ging, habe er seine kurzen, verkümmerten Arme durch Geschick der Beine und Füße einigermaßen kompensiert. Bei der Verständigung haben die so genannten Bliss-Symbole geholfen, zurückgehend auf ihren Erfinder Charles K. Bliss, der ein System aus Symbol- und Wortkärtchen entwickelte, mit denen man sich verständigen konnte, wenn Sprache fehlte.
Vormundschaft mit Hindernissen
Mit 18 Jahren, also 1979, kam Thomas nach Winnenden, um dort in der rund 500 Kilometer von Hannover entfernten Werkstätte als Näher zu arbeiten. Die Entfernung sollte aber kein unüberwindbares Hindernis sein. „Ich hatte mich aber gefragt, was aus ihm wird, wenn er volljährig ist. Denn auf einmal wachten auch seine Eltern auf und wollten die Vormundschaft haben!“ Thomas‘ Familie hatte sich allerdings all die Jahre nach Abgabe des Kindes nicht gekümmert, ihn niemals besucht oder sich auch nur fernmündlich erkundigt. Zuhrt: „Die Contergan-Zahlungen an die Geschädigten und das Kindergeld hatten sie allerdings immer kassiert.“
Renate Zuhrt nahm alles zusammen, ihren Mut, ihre ethische Verantwortung und nicht zuletzt Gutachten und Aussagen von Betreuerinnen, Ärzten und Ärztinnen und dem Leiter des Taub-Blindenzentrums in Hannover, und beantragte ihrerseits die Vormundschaft für Thomas. „Die Familie war natürlich sauer auf mich, das ist klar“, erinnert sie sich. „Aber ich hatte alle juristischen Argumente auf meiner Seite.“ Von der Moral mal ganz abgesehen.
Bei der formalen Entmündigung im Zuge der Vormundschaft ging es auch gar nicht darum, dass Thomas dumm oder geistig behindert sei. „Es war vielen nicht klar, dass Thomas nicht dumm war! Im Gegenteil. Wer technisch zeichnen kann und Zusammenhänge klar begreift oder diffizile Näharbeiten ausführen kann, der hat was im Kopf!“, war sich Renate Zuhrt schon früh sicher. „Es war aber nun mal so, dass er sich verbal nicht ausdrücken konnte. Daher brauchte er leider einen Vormund.“ In anderen Zeiten und mit Unterstützung der Eltern, wie sie anderen Menschen mit Conterganschädigung glücklicherweise widerfahren ist, hätte auch Thomas viel mehr erreichen können. Aufgrund der Sprach- und Lesebehinderung konnte er beispielsweise nie dem Zeichnen als Beruf nachgehen. In Winnenden arbeitet er bis heute als Näher in der Werkstatt in dem Heim, in dem er lebt. Ein wenig Erleichterung bringen inzwischen neue Technologien wie entsprechende Computerprogramme.
Wie ist es heute?
„Wir leben ja nicht im selben Haushalt; haben wir auch nie“, erklärt Renate Zuhrt. „Wir verbringen nicht den Alltag miteinander. Ich bin der Urlaub, die Freizeit. Wir können uns alle sechs Wochen etwa sehen, seit ich nicht mehr arbeite. Thomas liebt Schwimmbäder, das Meer und Reisen. Wir sind früher oft verreist, er hat mich in Hannover besucht, ich ihn in Winnenden. Oft waren wir gemeinsam Kleidung einkaufen, da hatte er schon immer sehr eigene Vorstellungen.“ Ebenso haben die beiden Kururlaube für Thomas gemacht, die sein berufs- und conterganbedingtes Rückenleiden lindern sollten. Und im Grunde ist es noch heute so. Allerdings stellt sich Renate Zuhrt die Frage nach Thomas‘ Zukunft. Er wird nun 60, sie selbst ist Mitte 90.
Doch sie bleibt am Ball und ist realistisch: „Altersbedingt muss ich die Vormundschaft bald abgeben und ich hoffe, dass es da jemanden gibt, der sich für Thomas engagiert. Ich bleibe aber da und erledige weiterhin alles, soweit ich kann.“ Sie wünscht sich, dass Thomas im Heim weiterhin alles hat, was er braucht. Auch persönliche Unterstützung durch die Begleiter und Begleiterinnen. Und er möge arbeiten, solange er es schafft.
Warum musste es Thomas sein? Wie hat sie es hingekriegt, sich seiner anzunehmen? „Wie machst Du das“, fragten Freunde und Freundinnen immer wieder zwischen Bewunderung und Erstaunen. „Manche Dinge kann man halt oder macht man eben einfach“, ist dann ihre Antwort.
Renate Zuhrt hat die gesamte Geschichte von Thomas und sich 1990 in einer medizinischen Zeitschrift des Richard Pflaum Verlages veröffentlicht. Mit freundlicher Genehmigung des Verlages, der Autorin und dem Nachfolge-Medium www.physiotherapeuten.de können Sie diese hier nachlesen.

Carsten Büll ist Fotograf aus Leidenschaft. Seine Fähigkeiten hat sich der studierte Sozialökonom über viele Jahre in professionellen Kursen und durch Workshops angeeignet. In den meisten seiner Arbeiten spielen Menschen die tragende Rolle. Vor einigen Jahren hat er einen Bildband über Menschen mit Conterganschädigung herausgebracht. Wir haben mit dem Heidelberger über seine Arbeit, seine Erfahrungen mit dem Thema Contergan und seinen speziellen Blick durch die Kamera gesprochen.
Herr Büll, als professioneller Fotograf sind neben Architektur und Industrie hauptsächlich Menschen Ihr Thema. Was reizt Sie daran?
Das stimmt. Menschen spielen eine zentrale Rolle in meinen Fotos. Zur Architekturfotografie kam ich erst im Laufe der Zeit. Man kann sagen, dass es in meinen Fotoarbeiten viel um Menschen und ihre jeweilige Umgebung geht. Dazu gehören auch Projekte, die mich länger begleiten. So kam etwa nach dem Contergan-Projekt die langfristig angelegte Bildserie „Bahnstadt“ über eine Neubausiedlung in Heidelberg zustande. Oder die Serie „Heidelberger Menschen“.
Warten Sie auf Aufträge oder suchen Sie sich selbst die Themen?
Beides. Das Contergan-Projekt war ein selbst gewähltes Thema, bei dem ich als Autor alle Freiheiten in Bezug auf Inhalt und Gestaltung hatte. Die „Heidelberger Menschen“, die in dem gleichen Verlag erschienen, waren ein Vorschlag des Verlags mit Vorgaben. Bei Auftragsarbeiten sind diese mal mehr und mal weniger strikt. Für das Projekt „Ein Tag Deutschland“ etwa wurden wir Fotografen vom Fotografenverband FREELENS e.V. aufgerufen, am selben Tag mit selbst gewählten Themen einen persönlichen Blick auf unser Land zu werfen.
Wie sind Sie zur Fotografie gekommen?
Ich habe relativ spät angefangen professionell zu fotografieren. Es fing als Hobby mit Urlaubsbildern und Landschaften an. Während meines Studiums der Volkswirtschaft und Sozialökonomie war ich in Tansania, später in Südafrika. Hier merkte ich irgendwann: Die eigentliche Herausforderung für mich beim Fotografieren sind die Menschen. Sie agieren und reagieren auf ihre Umwelt, auf mich und die Kamera. Das ist eine echte Herausforderung, hier eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen und den entscheidenden Moment eines interessanten Ausdrucks zu finden und festzuhalten.
Was war der Auslöser, sich fotografisch mit Menschen mit Conterganschädigung auseinanderzusetzen?
Ich stand damals in Kontakt mit einem Professor für Fotografie in Hannover, den ich über Workshops kannte. Er brachte mich auf das Thema Contergan, das weitgehend in Vergessenheit geraten war. Das interessierte mich sofort und bei meinen Recherchen stieß ich schnell auf die Betroffenen, die Menschen mit Conterganschädigung, welche einst als „Contergan-Kinder“ in den Medien Beachtung fanden, die aber längst keine Kinder mehr waren. Die Frage war: Was machen sie heute? Wie geht es ihnen? Unter anderem über den Bundesverband bin ich dann in Kontakt mit Betroffenen getreten. Unser gemeinsames Interesse war, dem Thema wieder eine Relevanz zu geben.
Wie war es, mit diesen Menschen als Fotograf zu arbeiten?
Die Fotos haben Reportage-Charakter. Es ging also nicht um inszenierte Portraits, sondern um die Darstellung von Alltag im dokumentarischen Sinne. Damit das gelingt, muss man zuerst Vertrauen aufbauen, um dann beim Fotografieren quasi unsichtbar zu werden. Gleichzeitig muss man Distanz wahren und den eigenen Blick und die eigene Position finden.
Einer der fünf Protagonisten des Contergan-Buches etwa hat mich so sehr in alles eingebunden und so viel erzählt, dass die nötige Distanz schwierig aufrecht zu halten war. Ich habe diese Menschen also sehr intensiv und gut kennengelernt. Das will man nicht missen. Es ist also immer eine Gratwanderung zwischen Distanz und Nähe.
Ist das Thema Contergan oder Menschen mit Behinderung eines, was Sie generell umtreibt?
Was mich generell umtreibt, ist das Thema Gerechtigkeit und der Mensch an sich. Wenn ich Menschen fotografiere – ob nun mit oder ohne Behinderung – dann geht es mir um die Person, um die Begegnung, die ich in konkreten Situationen erfassen möchte, wie auch immer diese sich dann entwickeln. Bei den Contergan-Bildern ging es mir nicht darum, die Schädigungen darzustellen. Mich interessierten die Persönlichkeiten, die mit den Folgen ihrer Schädigungen durch den Alltag gehen.
Während der Arbeit an diesem Projekt und auch beim Zeigen der Fotos habe ich festgestellt, dass es immer noch Befangenheiten gegenüber Menschen mit Handicap gibt. Ich wurde zum Beispiel gefragt, warum ich mich dem aussetze, das sei doch sicher alles nur schwer zu ertragen. Es gab aber auch den Vorwurf des Voyeurismus oder den der falschen Betroffenheit. Meine Feststellung war: Die Betroffenen selbst gehen damit viel lockerer um. Es kam auf der Suche nach Protagonisten für das Buch auch zur Ablehnung eines Prominenten mit Conterganschädigung. Er legte mir in einem ausführlichen Gespräch seine Befürchtung einer Zementierung der Opferrolle durch ein Wiederaufkochen der Thematik dar und wollte damit auf keinem Fall in Verbindung gebracht werden. Die Geschädigten begleitet die Gratwanderung zwischen Schicksal und Autonomie fortwährend.
Diese Bilder sind 2007 erstmals veröffentlicht worden. Wie wurde aus dem Projekt ein Fotoband?
Es war von Anfang an als Buchprojekt angelegt, auch wenn ich nicht wusste, ob ich einen Verleger finden würde. Wenn man sich in ein Thema einarbeitet, von dem man meint, es habe eine Relevanz für unsere Gesellschaft, dann sucht man auch die Öffentlichkeit. Der Wellhöfer Verlag in Mannheim wollte schließlich dem Thema Gewicht geben und eine Plattform bieten. Das war nicht selbstverständlich, denn es war ja sehr speziell und hatte eine sehr kleine Zielgruppe. Mein Name war auch nicht das große kommerzielle Zugpferd. Es konnte also nicht darum gehen, in erster Linie Geld damit zu verdienen.
Welche Reaktionen gab es auf die Bilder und den Bildband?
Aus dem Kreis der Betroffenen selbst kam viel Zuspruch und auch Dankbarkeit. Der Bundesverband war glücklich, dass jemand das Thema Contergan aufgreift und wieder publik macht. Auch die Medien zeigten Interesse: Der Stern hat eine Story gebracht, das Projekt wurde im Fernsehen und Radio mit ergänzenden Interviews mit mir vorgestellt. Weiterhin gab es mehrere Ausstellungen. Und erst vor etwa zwei Jahren kam eine Studentin der Kulturanthropologie wegen ihrer Bachelorarbeit auf mich zu. Es ging darin um die Rezeption meiner Bilder als Teil des gesellschaftlichen Umgangs mit Contergan.
Interessant ist, dass der Film „Eine einzige Tablette“ nahezu zeitgleich ins Fernsehen kam. Die Menschen mit Conterganschädigung waren nach langer Zeit plötzlich wieder Thema.
Das lag daran, dass sich der Fall Contergan zum 50. Mal jährte. Es gab da keinerlei Absprache zwischen dem Filmemacher und mir. Was mich wirklich berührte, war eine mir zugetragene Information, dass mein Buch wahrscheinlich dazu beigetragen hat, dass es eine neue Schadensersatzzahlung von Grünenthal an die Betroffenen gab. Ein Sohn der Eigentümerfamilie hatte sich dafür stark gemacht, nachdem er sich offenbar mit meinem Buch auseinandergesetzt hatte.
Der Bildband „Contergan“ ist nach wie vor im Handel erhältlich. Durch eine Kooperation mit Carsten Büll erscheinen gelegentlich seine Bilder auch hier im CIP.
Einen Überblick über die Arbeit von Carsten Büll finden Sie unter www.carstenbuell.de

„Fußball ist für mich ein Idiotensport!“ Bei dieser Aussage muss sich der Fußballfan und Autor dieser Zeilen erst mal setzen. Gesagt hat es Werner Briese aus Bochum, ein Ruhrpottler durch und durch und seines Zeichens Minigolf-Spezialist. Das Besondere: Werner Briese hat eine Conterganschädigung und ist mit nur einem stark verkürzten Arm geboren. Warum also ausgerechnet Minigolf? Wir haben ihn in Herne auf eine Partie getroffen – und mit Anstand verloren.
Laut Definition ist Miniaturgolf - ähnlich wie sein großer Bruder - eine Präzisionssportart. Es geht also nicht nur um das reine Vergnügen, sondern es stehen Technik und Leistung im Vordergrund. Man mag sich denken, dass sich Menschen mit Conterganschädigung eher an anderen Sportarten versuchen. Doch dem 60-jährigen Werner Briese hat es der kleine Ball angetan, den man mit einem Schläger auf 18 Bahnen mit möglichst wenigen Schlägen in die Löcher befördert. So sehr Werner Briese den Wettbewerb liebt, der Spaß bleibt für ihn das Wichtigste.
Vom Billard zum Minigolf
Die Anlage des Minigolfclubs des MGC Wanne e.V. in Herne liegt idyllisch, mit viel Grün im Umfeld, in einer bürgerlichen Wohngegend. Drei Minigolfgeläufe laden hier Gäste wie Vereinsmitglieder zum täglichen Kräftemessen ein. „Wir haben hier alle drei gängige Untergründe: Beton, Eternit und Filz“, erklärt Werner Briese. „Beton ist sicherlich allen am bekanntesten. Eternit ist ein harter Kunststoff und Filzbahnen findet man inzwischen auch immer öfter.“
Briese ist hier so bekannt wie ein bunter Hund. Das gilt nicht nur für die hiesige Anlage „Kein Wunder, ohne Arme, ne?“, sagt er entwaffnend. Auch die Bildzeitung war schon da und hat ihn interviewt. „Gibt ja nicht so viele in Deutschland, die meinen, ausgerechnet ohne Arme spielen zu müssen“. Es wird einem schnell klar, dass man es mit einer echten Ruhrpott-Schnauze zu tun hat, die offen, ehrlich und direkt selten ein Blatt vor den Mund nimmt.
Auch seine Gegner und Gegenspieler attackiert er im Spaß, was auch der Autor schnell lernen muss. „Beim Minigolf lernte ich, wie man mit Anstand verliert“, fällt mir eine deutsche Liedzeile ein. „Konzentrier dich!“, sagt Briese immer wieder, wenn ich zu locker am Ball stehe und ein weiterer Fehlschlag droht.
Werner Briese erzählt, wie er überhaupt zum „Minigolf-Profi“ wurde. „Die Anlage hier kenne ich schon ewig. Ganz früher haben wir freitags immer unsere Autos abgestellt, sind in die Diskothek und haben dann, wenn wir die Autos wieder abgeholt haben, eine Runde Minigolf gespielt.“ Aber erst 2006, in diesem heißen Sommer damals habe er angefangen, regelmäßig zu spielen. „Davor gab es nur Billard. Wir haben drinnen gehockt und gespielt. Da war es zu heiß und irgendwie zu dunkel.“ So hat er in jenem Sommer Minigolf für sich entdeckt. Irgendwann ist er Mitglied geworden, schaffte sich einen angepassten Schläger an, übte, probierte, trainierte und spielte schließlich Turniere. Seit 2012, so erzählt er, sei er auch raus aus dem Beruf und habe seitdem noch mehr Zeit für seine Leidenschaft.
Hunderte Bälle – jeder anders
Immer dabei sind Schläger und Tasche. „Den Schläger hab‘ ich mir bisschen verlängern lassen“, erläutert Briese. „So kann ich besser schlagen, indem ich den Griff zwischen Armansatz, Kinn und Brust klemme.“ Denn auf den richtigen Schlag kommt es an. Bloß nicht streicheln, wie es viele Laien machen! Und: richtig hinstellen. Noch vielfältiger als die Untergründe der Geläufe sind die Bälle. Werner Briese besitzt weit über tausend Stück. Um die 200 trägt er in einer Tasche mit sich herum. Die anderen sind zuhause. Der Preis für einen professionellen Minigolfball liegt bei 18 Euro. Briese trägt so gesehen immer ein kleines Vermögen mit sich herum. Für sprichwörtlich alle Fälle.
„Als ich zum ersten Mal hier war, dachte ich, die sind alle bekloppt. Mit ihren vielen Bällen, dem ganzen Zubehör, Sprungmessgeräten und so Zeugs. Aber es ist nötig, wenn man es ernsthaft betreibt und Wettbewerbe spielt.“ Ich erfahre, dass jede Bahn ihre Tücken und Eigenheiten hat. Jeder Untergrund sowieso. Neben dem Schlag und der Bahn kommt es sehr auf das Gewicht, die Beschaffenheit und das Material des Balles an. Minigolfbälle sind daher aus hartem Kunststoff, Gummi oder auch aus Glas. „Jeder Ball macht was anderes, reagiert anders. Manchmal soll ein Ball viel machen, manchmal soll er das gerade nicht.“ Und selbst die Temperatur müsse bei den Bällen stimmen, betont er: „Wenn der Ball nicht warm genug ist, läuft er nicht richtig. Ist er wiederum zu warm, überläuft er, wie man dann sagt.“
Die Regeln beim Minigolf sind international, die Bahnen genormt. Es gibt Ligen und Meisterschaften, offene wie geschlossene. „Letztes Jahr sollten hier die Weltmeisterschaften stattfinden“, sagt Briese. Wegen der Corona Pandemie wurden sie auf 2022 verschoben. Zwar nimmt er daran selbst nicht als Spieler teil, spielt aber trotzdem jeden Tag, an dem er auf der Club-Anlage ist, drei bis vier Runden. Trotz seiner Conterganschädigung ist Briese weitgehend mobil und kommt klar. „Ich muss mir natürlich auch helfen lassen. Und auswärts muss ich darauf achten, dass ich behindertengerechte Bedingungen habe. Das ist nicht überall der Fall.“
Besondere Grüße ins Rheinland
Neben dem Filzparcours ist ein kleiner Fußballplatz. Kinder schießen den Ball mit Karacho an den Zaun. Briese ist leicht entnervt. Noch immer kann ich kaum glauben, einen Mann aus dem Ruhrpott ohne Fußball-Affinität vor mir zu haben und hake nach. „Nun ja“, sagt Briese, „das ist klar, hier im Pott wächst du ja zwangsläufig damit auf. Und ich freue mich ja auch, dass der VfL Bochum jetzt aufgestiegen ist. Immerhin die richtigen Farben!“ Aber…? „Und erst mal gibt es ja nur einen wahren Verein hier, und das ist Schalke! Aber grundsätzlich finde ich das alles eher bescheuert. Der ganze Hype um den Profifußball nervt mich. Die Jungs sind völlig überbezahlt, viel zu reich und verwöhnt. Da ist viel zu viel Geld drin, viel zu aufgeblasen! Und die Deppen, die ins Stadion rennen, die unterstützen das alles noch! Ne, das ist nix für mich.“
Nachdem mich Werner Briese eine kleine Runde in seinem umgebauten VW T-Roc mitgenommen hat, gibt er noch einen mit ins Rheinland: „Und ihr Kölner lernt erst mal deutsch, dann wird das auch was mit dem Fußball“. Soso. „Und das nächste Mal spielen wir ‘ne Runde Billard!“ Das klingt wie eine Drohung.
Man muss Werner Briese einfach gernhaben.
Rainer Jagusch: "Der Film ist eine Sammlung von O-Tönen"
Anlässlich des 60. Jahrestages der Marktrücknahme von Contergan Ende November vergangenen Jahres waren mehr als 160 Menschen mit Conterganschädigung der Einladung zu einem zweitägigen „Lebensfest“ nach Köln gefolgt. In diesem Rahmen wurde erstmals auch der Film „Stimmen gegen das Vergessen – Contergan“ von Rainer Jagusch gezeigt. Wir haben mit dem Bochumer Fotografen und Filmemacher gesprochen.
HERR JAGUSCH, WIE SIND SIE ZUM FILMEMACHEN GEKOMMEN?
Angefangen hat alles mit der Fotografie. Das habe ich bei der Bundeswehr gelernt – ich war Luftbildfotograf und wollte eigentlich Fotodesign studieren.
Dann bin ich längere Zeit ernsthaft an einer Hirnhautentzündung erkrankt und konnte erst einmal nicht weitermachen. Nach einiger Zeit bin ich dann allmählich wieder zum Fotografieren zurückgekommen. Über meinen Schwager und Mundpropaganda bin ich an Aufträge und Jobs gekommen – auch für den Bereich Bewegtbild.
MENSCHEN INS BILD ZU SETZEN IST ODER WAR GAR NICHT IHR PRIMÄRES THEMA?
Nicht in erster Linie, das stimmt. Ich arbeite sehr viel im Bereich Architektur, etwa im Auftrag von Maklern. Außerdem bin ich im medizinischen Bereich tätig. Zum Beispiel habe ich mit meinen Fotos an einem Fachbuch eines befreundeten Chirurgen mitgewirkt, das er über Wirbelsäulen-OPs geschrieben hat. Sehr speziell.
UND WIE KAM DANN LETZTENDLICH DAS FILMPROJEKT „GEGEN DAS VERGESSEN“ ZUSTANDE?
Ich kannte den Interessenverband der Contergangeschädigten in NRW schon eine längere Zeit durch einen Freund. Die Zusammenarbeit begann damit, dass ich die Reha Care Messen mit der Kamera begleitet habe. So habe ich die Menschen und deren Themen und Probleme immer mehr kennengelernt.
Im Zuge der Planungen für das Gedenkjahr 2021 fragte mich Udo Herterich dann, ob ich eine Idee hätte, was man anlässlich der 60-jährigen Marktrücknahme machen könnte.
UND SIE HATTEN EINE IDEE…
Ja. Mein Eindruck war, dass die Sache mit Contergan nach all der Zeit doch sehr in Vergessenheit geraten war. Selbst Mediziner und Ärzte, erst recht jüngere Menschen, wissen so gut wie gar nichts mehr darüber. Hauptansatz musste also sein, dem Nichtwissen entgegenzuwirken und noch mal auf die Betroffenen und deren Probleme aufmerksam zu machen.
DAS GRUNDKONZEPT WAR DANN, DIE MENSCHEN ERZÄHLEN ZU LASSEN?
Genau. Ich wollte sie ihre persönlichen Geschichten erzählen lassen. Und zwar grob gerastert an vier Fragenblöcken, zu denen sich alle äußern konnten. Eine Frage etwa war: Wann hast Du zum ersten Mal gemerkt, dass bei Dir etwas anders ist? Allein da bekommt man die unterschiedlichsten Antworten. Bei dem einen war das im Kindergarten, bei anderen wurde das Anderssein zunächst weniger bewusst wahrgenommen.
Es sollten aber auch die Eltern der Betroffenen zu Wort kommen. Denn diese sterben ja allmählich weg. Daher wollte ich, dass sie möglichst authentisch und aus erster Hand erzählen, wie es damals war: Was haben sie empfunden, wie sind sie damit umgegangen, welche Kämpfe haben sie austragen müssen usw. Der Film ist somit eine Art Sammlung von O-Tönen, unkommentiert und nur durch ein paar Fotos und Dokumente illustriert.
WIE HABEN SIE DIE INTERVIEWPARTNERINNEN UND -PARTNER GEFUNDEN?
Das Gute war, dass viele mich schon kannten. Durch die Messen etwa oder durch andere Veranstaltungen, bei denen ich mit der Kamera war. Das war sehr hilfreich, um Interviewpartner zu finden. Der Interessenverband hat dann auch noch mitgeholfen, die Kontakte herzustellen und das Projekt bei den Betroffenen zu lancieren.
WENN ICH SIE NOCH MAL AUF IHRE EIGENE ERKRANKUNG ANSPRECHEN DARF, HAT DIESE SIE BESONDERS SENSIBEL GEGENÜBER DER THEMATIK GEMACHT?
Auf jeden Fall, denke ich. Ich habe am eigenen Leib festgestellt, wie es ist, wenn nichts mehr geht und man vollkommen auf Andere angewiesen ist. Seien es Ärzte oder Mitmenschen. Da wird man demütig und sicherlich sensibel für Menschen und Situationen. Auch wenn das nicht vergleichbar ist, verändert es die Perspektive.
WELCHE ROLLE SPIELTE MICHAEL LAPP, DER SELBST VON CONTERGAN BETROFFEN IST UND FÜR DEN FILM DIE REGIE-ASSISTENZ GEFÜHRT HAT?
Ehrlich gesagt wäre das alles ohne ihn gar nicht möglich gewesen. Nicht so schnell und nicht so reibungslos. Wir sind befreundet und er war einfach eine große Hilfe. Während der gesamten Vorbereitung und Produktion war er eine zentrale Figur. Nicht zuletzt, weil ich zu der Zeit gesundheitlich arg angeschlagen war, hat er das Ganze entscheidend vorangebracht.
Michael hat vor allem eine Menge Türen zu den Betroffenen geöffnet. Und zwar sprichwörtlich, da wir zu den Menschen nachhause gefahren sind, um sie in ihrem privaten Umfeld zu filmen. Er hat viel zu einer entspannten Atmosphäre beigetragen. Ich bin ihm sehr dankbar.
NACH WELCHEN KRITERIEN HABEN SIE DIE SZENEN UND EPISODEN DANN AUSGEWÄHLT?
Ich hatte am Ende etwa 30 Stunden Filmmaterial, das ich auf 60 Minuten schneiden musste. Man muss einer gewissen Dramaturgie folgen, einen gewissen Spannungsbogen halten. Manche Interviewte sind daher gar nicht oder nur ganz kurz drin. Es gab ebenso Szenen und Situationen, die waren so intim, dass ich sie nicht verwendet habe. Etwa, wenn jemand in Tränen ausgebrochen ist. Teilweise bin ich aus den Interviews rausgekommen und musste selbst erst mal kräftig schlucken. Doch wenn zu viel hochkommt, muss man die Menschen auch schützen. Nicht zuletzt muss man darauf achten, dass der Zuschauer das fertige Produkt gerne und mit Gewinn anschaut.
IHR FILM IST ERSTMALS IM RAHMEN DES „LEBENSFESTES“ ENDE 2021 IN KÖLN GEZEIGT WORDEN. WIE WAR DIE RESONANZ?
Die Resonanz war sehr gut. Ich konnte natürlich nicht selbst mit allen sprechen, doch sowohl die Beteiligten als auch die Zuschauenden waren sehr angetan. Von daher war das Filmprojekt ein voller Erfolg!
WAS WÜNSCHEN SIE SICH, GANZ PERSÖNLICH, FÜR IHREN FILM UND FÜR DIE DARIN AUFTRETENDEN MENSCHEN?
Es wäre natürlich schön, wenn der Film über die Betroffenenfamilien und Verbände hinaus mehr Bekanntheit erfahren würde. Denn es geht in der Tat darum, das Thema und die Menschen nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Den Betroffenen wünsche ich, dass sie ein würdevolles Leben führen können, bis zum Ende.
SIE PLANEN SCHON DAS NÄCHSTE FILMPROJEKT, DAS GENAU DORT ANSCHLIESST
Ja. Wir werden die Geschichten weitererzählen. Es soll ein Nachfolger kommen. Wobei der ein wenig anders wird. Der Fokus soll hier hier mehr auf den Familien liegen und darauf, wie der Fall Contergan die anderen Familienmitglieder geprägt hat.
DANN SPRECHEN WIR UNS DAZU GERNE WIEDER, WENN SIE WOLLEN…
Aber gern. Ich denke Ende dieses Jahres könnte es so weit sein.
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Bereits zum dritten Mal schrieb die Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) einen Fotowettbewerb aus. Wir haben mit einem der aktuellen Preisträger gesprochen.
WIE SIND SIE DAS THEMA „MENSCH-ARBEIT-HANDICAP“ ANGEGANGEN, WAS WAR IHR KONZEPT?
Mein Grundkonzept war, dass ich reale Situationen am Arbeitsplatz einfangen wollte. Nach ersten Ideen dazu habe ich versucht, Menschen mit Handicap als aktive Gestalterinnen und Gestalter in ihrem Arbeitsleben und Arbeitsumfeld zu zeigen. Menschen, die in Verantwortung für sich und ihr Tun stehen.
DAHER DER NAME „AKTEURE IHRES LEBENS“…
Das Schöne an den prämierten Bildern ist das Authentische. Dass sie zeigen, womit Menschen konfrontiert sind, die ein Handicap haben. Und: es sind eben Fotos, die ohne Marketing-Hintergrund, ohne einen Auftrag mit Vorgaben entstanden sind. Daher wirken sie aus sich heraus. Das war mir wichtig.
WER MACHT BEI DIESEN WETTBEWERBEN MIT?
Die Ausschreibung richtet sich gezielt an professionelle Fotografinnen und Fotografen. Man findet den Aufruf zum Wettbewerb daher in Fachzeitschriften, aber auch in Magazinen wie „Chrismon“. Wie viele am Ende mitgemacht haben, weiß ich gar nicht. Aber es gab 14 Preisträger und Preisträgerinnen sowie einen Sonderpreis.
HATTEN SIE WIRKLICH VÖLLIGE KÜNSTLERISCHE FREIHEIT?
Ja, das kann man so sagen und das macht auch den Reiz aus. Man geht dann nämlich anders heran als an eine Auftragsarbeit. Die Berufsgenossenschaft hat für die Bildsprache keine Vorgaben gemacht. Also konnte jeder und jede mit der eigenen Herangehensweise und Handschrift arbeiten. Diese Autarkie ist das Entscheidende für meine Arbeit gewesen. Denn so hat sich eine eigene Dynamik beim Fotografieren entwickelt.
WIE HABEN SIE DIE MENSCHEN GEFUNDEN, DIE SIE FOTOGRAFIERT HABEN?
Der Bereich Arbeit und Handicap war mir nicht neu. Mit dem Thema Arbeit setzte ich mich seit meiner Studentenzeit an der Folkwang Schule in Essen in unterschiedlichen fotografischen Projekten auseinander. Ich habe auch selbst in meinem linken Arm bzw. meiner linken Hand ein Handicap, welches ich in meine berufliche Tätigkeit integriere. Außerdem habe ich schon länger, auch von Berufswegen, in unterschiedlichen Produktionen und durch verschiedene Auftraggeber mit dem Thema Behinderung zu tun.
So etwa durch Fotoarbeiten, für die mich die Diakonie Michaelshoven in Köln beauftragte. Oder für Karen Schaller, die seit ihrer Erkrankung an Multiple Sklerose im Rollstuhl sitzt. Sie hatte mich mit Porträts für ihre Webseiten und Pressearbeit beauftragt. Als Mentorin für den Hildegardis-Verein unterstützt sie Berufsanfängerinnen und -anfänger beim Start ins Berufsleben. Für die „Aktion Mensch“ ist sie zudem eine wichtige Ansprechpartnerin und Mutmacherin im Wirken nach Außen, gerade für die Themen Arbeit und Handicap. Durch meine Anfragen für den Wettbewerb ergaben sich dann schnell weitere Kontakte.
SIE HABEN ALSO IHR NETZWERK GENUTZT, UM MOTIVE UND MENSCHEN ZU FINDEN?
Ich habe es versucht. Wie ich jedoch schnell feststellte, waren Menschen mit Behinderung in Unternehmen wegen Corona für mich nicht erreichbar. Ich kam nicht an den eigentlichen Arbeitsplatz, um den es ja gehen sollte. Aus Zeitmangel hat sich meine Anfrage beim Contergan-Verband Köln, der sich sehr interessiert und offen dem Thema gegenüber gezeigt hat, leider nicht weiter konkretisiert.
GIBT ES HERAUSFORDERUNGEN BEIM FOTOGRAFIEREN VON MENSCHEN MIT HANDICAP?
Es braucht eine Vertrauensbasis, denn am Anfang steht oft Skepsis, die bei jedem Einzelnen mit persönlichen Einstellungen und Erfahrungen zu tun haben. Außerdem ist die Fotoaktion mit Aufwand verbunden. Teilweise habe ich mit meinen Akteurinnen vier Stunden lang fotografiert. Bei dem Shooting mit Nina Odenius, die als Journalistin für das Domradio tätig ist, konnte ich ich als erfahrener Fotograf im Umgang mit meiner Protagonistin Neuland betreten. Denn als Sehbehinderte kann sie Fotos nicht wahrnehmen. Während der Aufnahmen konnten wir glücklicherweise trotzdem ein gemeinsames Verständnis für die Zielsetzung entwickeln.
Sowieso, am Anfang steht das Kennenlernen, Beschreibungen und Erklärungen der Vorgehensweise und der Intention des Projekts: Worum geht es bei dem Foto? Was soll es zeigen - ohne voyeuristisch zu sein? Was bringt es den Fotografierten, wer wird es am Ende sehen? Die Porträtierten und ich als Fotograf müssen sich auf diesen Prozess einlassen. Nur so kann es funktionieren.
SIE HABEN AUCH MATTHIAS BERG FOTOGRAFIERT, DER EINE CONTERGANSCHÄDIGUNG HAT. WAS WAR HIER DAS BESONDERE BEIM FOTOGRAFIEREN?
Das Spannende bei Matthias Berg ist die Frage, wie man seine vielen Tätigkeiten überhaupt abbildet. Er hat schon so viel in seinem Leben gemacht - auch heute noch. Zuerst hatten wir geplant, ihn mit seinen Studierenden zu zeigen. Die Veranstaltung ist dann leider ausgefallen.
Aber Matthias Berg berät und coacht auch große Unternehmen in Sachen Inklusion. Also haben wir beschlossen, das einzufangen. Aber auch hier das Problem mit Corona: Der Vortrag fand am Ende online statt. Also baute ich mein Licht und meine Kamera schließlich in seinem Arbeitszimmer in Stuttgart auf. Das Foto aus diesem Termin gehört zu den prämierten.
WIE ENTSTEHT DAS BILD, SEINE AUSSAGE, VIELLEICHT DIE KUNST…DAS MÜSSEN SIE NÄHER ERLÄUTERN.
Sie sind als Fotograf – zumindest verstehe ich mich bei diesem Projekt so – eine Art teilnehmender Beobachter. Sie sind da, aber müssen auch unsichtbar sein. Jemand wie Matthias Berg weiß sich zu inszenieren. Den Moment, wo er wirklich die Kamera vergisst, den müssen Sie treffen.
Es ist natürlich eine andere Sache, wenn sie eine Person mit Behinderung fotografieren, die bei ihrer Tätigkeit gar nicht in der Öffentlichkeit steht und sich entsprechend anders verhält. Oft hilft der Zufall, manchmal muss man eine Art Regieanweisung geben.
Bei Matthias Berg gab es einen Moment, als er von einer Begegnung im Bus berichtete, bei der er einen verunsicherten Mann einfach anlächelte und dieser entspannt zurücklächelte. Genau darum geht es – auch im übertragenen Sinne beim Thema Inklusion. Den anderen sehen und annehmen, wie er ist. Das sollte auch in den Fotos zu sehen sein.
WIE ENTSCHEIDEN SIE: DAS IST DAS BESTE BILD, DAS REICHE ICH EIN?
Ich treffe eine Vorauswahl, die ich immer begründen kann. Ich lege fest, was ich in einem Foto sehen will, ob ich es tatsächlich darin sehe und warum das so ist. Und dann beziehe ich die Probanden mit ein. Ganz selten ist man völlig unterschiedlicher Meinung. Am Ende waren es dann fünf Fotos, die für „Akteure ihres Lebens“ in Frage kamen.
WELCHE ÖFFENTLICHKEIT ERREICHT DER WETTBEWERB?
Neben der üblichen Berichterstattung gibt es die Wanderausstellung. Die Leute von BGW haben sich genau überlegt, wohin gehen wir mit den Bildern? Sie haben sich ganz bewusst für öffentliche Plätze entschieden. Dorthin, wo Menschen sind, wo man vorbeikommt und stehen bleibt. Aber am Ende kann man es nicht wirklich steuern, ob und wie es in der Bevölkerung angenommen wird. Man kann sich auch vor den Kölner Dom stellen und die Leute gehen trotzdem vorbei.
ABER HIER WAR DIESES HINAUSGEHEN EINE GUTE IDEE….
Definitiv, ja. So ist dieser Wettbewerb sogar innerhalb von drei, vier Jahren zu einer Marke geworden. Die Wanderausstellung wird sehr gut besucht. Immer wieder fragen Städte nach, ob sie die Ausstellung auch bei sich präsentieren können. Etwa die Stadt Bonn mit dem Münsterplatz oder der Europaplatz in Köln-Deutz.
DER NEUE WETTBEWERB UNTER DEM MOTTO „MENSCH-ARBEIT-ZUKUNFT“ IST SCHON ANGEKÜNDIGT. WERDEN SIE WIEDER MITMACHEN?
Ich kann es mir gut vorstellen. Warum nicht?
Die weiteren Fotos von Kurt Steinhausen aus dem Wettbewerb finden Sie hier.
Zu der Website des BGW, zu weiteren Infos zum Wettbewerb, den Ausstellungen und den preisgekrönten Beiträgen geht es hier lang.

Helen Müller steht nicht gerne im Vordergrund. Doch wie alle Menschen mit Conterganschädigung hat sie ihre eigene Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte aus Schmerzen und wie man ihnen mit einer alternativen Therapie begegnen kann.
Immer wieder haben wir in den vergangenen zwei Jahren Menschen mit Conterganschädigung persönlich vorgestellt. Die meisten von ihnen waren Vorsitzende von Interessenverbänden, in Kunst und Kultur aktiv, haben auffällige bis ungewöhnliche Hobbys oder haben ihre Lebensgeschichte veröffentlicht und damit ein breites Publikum erreicht. Es gibt aber auch die anderen. Die Stilleren und weniger Bekannten. Eine von ihnen ist die Freiburgerin Helen Müller. Doch im Stillen ist auch sie eine Kämpferin.
„Ich war immer schnell, ich war immer fit“, sagt Helen Müller über ihre Kindheit und Jugend. „Oft war ich eine der ersten, die beim Sport ins Team gewählt wurde.“ Diese Fitness, vor allem in den Beinen, übernahm sie auch mental. Obwohl ihr die Arme fehlen und Contergan ihr nur rudimentäre Finger und Hände gelassen hat, blieb sie immer aktiv und selbstbewusst. Sie brachte sich bei, die Hände zu ersetzen: „Ich habe gelernt, so gut wie alles mit Beinen und Füßen zu machen.“ Und dies, wie sie sagt, mit einer erstaunlichen Geschicklichkeit.
ARBEIT MIT GEISTIG BEHINDERTEN MENSCHEN
Helen Müller ist in Mayen in der Eifel geboren und in Koblenz aufgewachsen, bevor es sie Ende der Neunzigerjahre schließlich nach Freiburg im Breisgau verschlug, nachdem sie sieben Jahre „in der Pampa“ gearbeitet hatte. „Ich wollte wieder in die Stadt. Ich wollte mehr sehen, mehr machen und nutzen können kulturell und freizeitmäßig.“ Viele Jahre hat sie beruflich als Erzieherin mit Kindern mit einer geistigen Behinderung gearbeitet und leitete eine heilpädagogische Kindergruppe in einer anthroposophischen Einrichtung.
Ihre eigene Beeinträchtigung war dabei durchaus hilfreich: „Ich habe durch meine eigene Behinderung eine andere Sensibilität für diese Menschen mitgebracht. Das habe ich immer wieder gemerkt. Und das war eine Arbeit, die ich sehr gerne gemacht habe.“
EIN „SCHNELL SCHLEICHENDER PROZESS“
Wie bei allen Menschen mit Conterganschädigung hat auch Helen Müller nun schon seit einigen Jahren mit Folgeerkrankungen zu kämpfen, die sich neben den üblichen Alterserscheinungen verstärkt bemerkbar machen. Sie potenzieren die Schmerzen und die körperlichen Probleme. Füße und Beine, ehedem die Garanten für ein gewisses Maß an Autonomie und Selbstständigkeit, verweigerten zunehmend ihren Dienst. Auch der Rücken, jahrzehntelang besonderen, angepassten Bewegungsabläufen und Belastungen ausgesetzt, reagierte nur noch mit Schmerzen.
„Mein Lendenwirbel macht mir Probleme“, erzählt sie. „Ob beim Aufstehen, Gehen oder beim Liegen. Das Gehen ging irgendwann fast gar nicht mehr.“ Bei diesen Schmerzen war es nicht mehr möglich, mit Kindern zu arbeiten. So ließ sie sich bereits mit 49 Jahren schweren Herzens verrenten. Doch das löste die gesundheitlichen Probleme nicht.
„Im Gegenteil, es wurde immer schlimmer. Mein Rücken, meine Hüfte, meine Knie und meine Oberschenkel waren ein einziges Katastrophengebiet.“ Es kam sehr schnell eins zum anderen. In der Rückschau ein „schnell schleichender Prozess“, wie sie es nennt. Und das trotz – oder wegen? – ständiger Aktivität und Maßnahmen wie Krankengymnastik und Reha-Kuren, die nur kurzfristige Erleichterung brachten. Mit 56 Jahren konnte sie fast nicht mehr laufen. Was tun?
Die Schäden an Rückenwirbel und Hüftknochen waren von Geburt an da. Mit ihnen lebte Helen Müller von Anfang an. Auch die Diagnose Hüftarthrose ist schon älter. „Der untere Lendenwirbel hat mir schon früh in meinem Leben Schwierigkeiten gemacht. In meinem mittleren Lebensabschnitt ging es sehr gut, bis er sich ca. in meinem 48. Lebensjahr wieder sehr massiv meldete“, berichtet sie. Die jahrelange Überbeanspruchung der unteren Extremitäten tat dann ihr Übriges.
DIE ENTSCHEIDUNG: KEINE OPERATIONEN
Was sagten ihre Ärzte? „Es hieß, ich bräuchte eine neue Hüfte. Okay, dachte ich und habe mich erkundigt, was das bedeutet, wie die Operation laufen würde.“ Doch die Aussichten waren nicht überzeugend. Man konnte ihr nicht garantieren, dass sie ihre alte Beweglichkeit mit künstlicher Hüfte wiedererlangt. „Mir war klar, wenn ich meinen rechten Fuß nicht mehr bis zum Kopf führen kann, bringt mir das nichts.“ Diese Beweglichkeit, die immer auch ein Maß an Selbstständigkeit mit sich gebracht hatte, wollte sie nicht gefährden. Also: keine Operation! „Ebenfalls sagte man mir, ich bräuchte eine Rücken-OP, Versteifung des unteren Lendenwirbels. Auch da war mir klar, dass dies keine Option ist!“
Entgegen der ärztlichen Ratschläge war sich Helen Müller sicher: „Ich finde einen Weg! Ich werde mich wieder bewegen können! Ich war immer ein von Grund auf positiver Mensch. Ich bin in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen und hatte alles, was ich brauchte. Ich habe gelernt, wenn ich mich bewege, kann ich was erreichen. Man muss einfach dranbleiben, daran glauben und Neues ausprobieren.“
DIE LÖSUNG: BIOKINEMATIK
Helen Müller informierte sich, schaute sich um, recherchierte. „Eine Freundin erzählte mir dann von Dr. Walter Packi in Bad Krozingen, also nicht weit von Freiburg entfernt, der eine Methode entwickelt habe, die sich Biokinematik nennt.“ Das klang vielversprechend. Denn auf der Website der Praxis heißt es: „Die Biokinematik gründet auf der Erkenntnis, dass chronische Schmerzen […] durch krankhafte Veränderungen des Bewegungsapparats entstehen. […] Ziel ist es, die Muskulatur wieder in ihren ursprünglichen, gesunden Zustand zu versetzen. Dadurch kann sich der Körper wieder in seinen natürlichen Bewegungsbahnen fortbewegen und die Schmerzen gehen zurück.“ Überzeugt von diesem ganzheitlichen Ansatz suchte sie schließlich die Praxis auf.
Ganz so einfach war die Sache aber nicht. „Ich hatte inzwischen durch Schonhaltung ziemliche Fehlstellungen entwickelt und ging bereits stark nach vorne gebeugt“, erzählt sie. Nach einer ärztlichen Untersuchung und einer Therapiestunde, empfahl man ihr für eine Woche stationär zu kommen. So ging Helen Müller für eine Woche in die Klinik, um dem über Jahre gewachsenen Grundproblem auf die Spur zu kommen. Bei der Anamnese spielten dabei weniger die Röntgenbilder als der Bewegungsapparat und sein gegenwärtiger Zustand eine Rolle.
Trotz aller Zuversicht, es würde kein Zuckerschlecken werden, hatte man ihr angekündigt. Sie würde durch Schmerzen gehen müssen, um in vielen kleinen Schritten ihrem Körper wieder beizubringen, bewegungsfähig zu werden. Die Schmerzen wanderten regelrecht durch ihren Körper: „Wenn es im Rücken besser wurde, wurde es in den Beinen schlimmer, dann wieder in den Knien besser und dafür schmerzte es in der Hüfte.“ Aber Helen Müller merkte: da passiert etwas. Es würde sich lohnen. Und ihr Gefühl war richtig. Nach der „Intensivtherapie“ wurde sie weiter ambulant behandelt, „weil ich gemerkt habe, wie gut mir das tut“.
DIE NACHTEILE: KEINE KASSENLEISTUNG UND DER INNERE SCHWEINEHUND
Der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Auch heute noch hat Helen Müller Schmerzen. Sie kommen immer wieder, aber sie sind anders. Die „einschießenden Schmerzen“ kommen seltener. Die Schmerztabletten hat sie abgesetzt. Die Tage, an denen sie sich gar nicht mehr bewegen kann, sind fast vorbei, und sie hat wieder mehr Aufrichtung in ihren Körper bekommen. „Alle zwei Wochen gehe ich ambulant in die Praxis. Es sind nur wenige Übungen, die ich zu Hause selbst machen soll [siehe Fotos]. Und das am besten ganz regelmäßig! Allerdings bin ich nicht gut in Sachen Disziplin. Der innere Schweinehund stört“, gibt sie zu.
In jedem Fall kann sie Menschen mit chronischen Schmerzen – ob mit oder ohne Conterganschädigung – den Ansatz der Biokinematik nur empfehlen. Zwei Nachteile habe die Therapie: Da das Prinzip noch sehr jung ist, gibt es bislang nur diese eine Praxis in Bad Krozingen, und die Krankenkassen zahlen die Behandlung trotz medizinisch-wissenschaftlicher Belegbarkeit ihres Erfolges nicht. „Ich habe also Glück, dass ich nur etwa 20 Kilometer fahren muss“, freut sich Helen Müller. „Allerdings wäre ich auch weitergefahren, weil es sich lohnt.“
Was wiederum das Geld betrifft, so müsse man eben abwägen, was einem die Aussicht auf eine bessere Gesundheit und ein schmerzreduziertes Leben wert sei. Zusätzliche Hilfe kam für Helen Müller von unerwarteter Seite: Mit Erfolg wandte sie sich an die Grünenthal Stiftung, die unbürokratisch eingesprungen sei. Die Grundfröhlichkeit, das Positive hat sich Helen Müller immer erhalten: „Meine Zufriedenheit, Fröhlichkeit und meine positive Sicht in die Zukunft werden mir auf meinem weiteren Weg helfen!“