Das Bild zeigt verschiedene Blister

Von Teratogenen und Paracetamol

Der Fall Contergan hat unter anderem dafür gesorgt, dass Medikamente besser erforscht werden. Dennoch mahnt der „lange Schatten Contergan“ zu weiterer Vorsicht. Denn ungewollte bzw. wenig erforschte Nebenwirkungen bei Ungeborenen durch vermeintlich unbedenkliche Medikamente sind auch heute nicht gänzlich ausgeschlossen. Darauf weist die Barmer-Ersatzkasse in ihrem aktuellen Arzneimittelreport hin. Zum Beispiel gilt Paracetamol in der Schwangerschaft nicht mehr als gänzlich unbedenklich, worauf Studien aus Dänemark verweisen.

 

„Mehr als 60 Jahre nach dem Contergan-Skandal gibt es noch immer Informationslücken und bedenkliche Verordnungen an junge Frauen und Schwangere“, sagte Heiner Beckmann, Landesgeschäftsführer der Barmer Ersatzkasse (BEK) in Nordrhein-Westfalen. Er sieht darin Risiken für Ungeborene. Wenngleich mit Contergan vergleichbare Schädigungen bisher in keinem Fall aufgetreten und auch nicht zu befürchten sind. In ihrem diesjährigen Arzneimittelreport hat die Krankenkasse das Thema dennoch zum Schwerpunkt gemacht und wirbt für mehr Aufklärung.

 

Barmer nimmt „teratogene Substanzen“ in den Blick

In einer Befragung unter den eigenen Versicherten ging es um so genannte „teratogene Substanzen“, die von Schwangeren eingenommen werden. Das sind Wirkstoffe, von denen bekannt ist, dass sie in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft in unterschiedlicher Intensität und Wahrscheinlichkeit Fehlbildungen des Ungeborenen verursachen können. Dazu gehört etwa die Valproinsäure, die bei Epilepsie und Krampfanfällen oder zur Stimmungsstabilisierung bei bipolaren Störungen eingesetzt wird. Ebenso Retinoide, die unter anderem bei schwerer Akne, Schuppenflechte und Hauttumoren zur Anwendung kommen. Sowie bestimmte Krebsmedikamente oder Sexualhormone, Antibiotika, Rheumamedikamente oder Lithium.

BEK-Chef Beckmann weist darauf hin, dass eine grundsätzliche Verordnung dieser „potenziellen Teratogene“ – potenziell, weil die ungewünschte Wirkung nur bei Schwangerschaft auftreten kann – selbst kein Problem sei, vor allem, wenn verhütet wird. „Aber spätestens mit Eintritt der Schwangerschaft darf kein Teratogen mehr zum Einsatz kommen, genau genommen muss der Schutz des Ungeborenen bereits davor beginnen.“

Rechnet man die Zahlen der Barmer-Erhebung auf ganz NRW hoch, wurden im Referenzjahr 2018 rund 316.000 Frauen im gebärfähigen Alter potenzielle Teratogene verordnet. In fast 22.000 Fällen war es sogar ein Mittel, das als „unzweifelhaft stark“ in seiner Wirkung auf eine Schwangere eingestuft wird. Einerseits wird von diesen Frauen nur ein Bruchteil schwanger. Doch spätestens mit Beginn der Schwangerschaft dürfe keiner Frau mehr ein Medikament mit teratogenen Substanzen mehr verabreicht werden, so Beckmann.

 

Bessere Dokumentation kann helfen

Acht von zehn Frauen nehmen während der Schwangerschaft mindestens ein Medikament regelmäßig ein. Durch eine bessere Dokumentation der Medikationspläne könnte mehr Aufklärung gelingen und Informationslücken geschlossen werden. Heiner Beckmann: „Frauen im gebärfähigen Alter mit Dauermedikation sollten einen Rechtsanspruch auf einen Medikationsplan erhalten. Und zwar schon ab dem ersten von ihnen eingenommenen Medikament.“ Derzeit ist ein Medikationsplan bei mindestens drei dauerhaft verordneten Medikamenten generell vorgeschrieben. Der Plan wird der Patientin von der jeweiligen Arztpraxis ausgedruckt oder kann auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden. Damit der behandelnde Gynäkologe einen Überblick über die Medikation der Neu-Schwangeren erhält. Aufgrund der besonderen Gefährdung für das Ungeborene fordert die BEK daher einen Medikationsplan bereits ab nur einem verordneten Teratogen für Frauen im gebärfähigen Alter.

 

Paracetamol im Fokus

Zum Thema Nebenwirkungen für Ungeborene hat sich jüngst eine Gruppe Forschende um David Kristensen an der Universität Kopenhagen im Fachmagazin „Nature Reviews Endocrinology“ geäußert. Für sie steht das Medikament Paracetamol im Fokus. Von Aspirin und Ibuprofen raten die Experten in der Schwangerschaft wegen der negativen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System des Embryos grundsätzlich ab. Hingegen gilt Paracetamol bei Schmerzen und Fieber bislang als unbedenklich. Daran zweifeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler inzwischen und stellen einen Zusammenhang zwischen dessen Einnahme und dem Auftreten von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizits-Hyperaktivitätsstörung) bei den Kindern her.

Auch von Fehlbildungen und niedrigeren Intelligenzquotienten ist die Rede, sowie von gelegentlichem Hodenhochstand bei männlichen Babys. Basis der Erhebung aus Kopenhagen ist eine Studie über einen Zeitraum von 25 Jahren. Auch entsprechende Ergebnisse nach Tierversuchen bestätigen dies . Allerdings, so betonen die mehr als 90 Forschenden um Kristensen, bräuchte es für verlässliche Aussagen weitere, vergleichbare Studien.

Zur Panik bestehe allerdings keinerlei Anlass. Das sagt Wolfgang Paulus, Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Universitätsfrauenklinik Ulm. „Es ist sicherlich gerechtfertigt, vor einem allzu leichtfertigen Umgang bei der Einnahme von Paracetamol während der Schwangerschaft zu warnen“, so der Experte. „Die bisher beobachteten Veränderungen in der Verhaltens- und Geschlechtsentwicklung sind jedoch in der Größenordnung absolut nicht vergleichbar mit Schädigungen wie beispielsweise durch Contergan.“

 

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