Das Bild zeigt Eberhard Franz vor einer Autokarosserie

„Mein Lenksystem hat vielen Menschen mit Behinderung Freiheit gebracht.“

Herr Franz, Sie haben mit 20 Jahren bei einem Unfall beide Arme verloren. Welche Erinnerung haben Sie daran?

Ich war beim damals drittgrößten Elektrokonzern Deutschlands beschäftigt. Wir sollten in der Nähe von Köln eine alte Hochspannungsanlage stilllegen. Ich war mitten in der Arbeit, als von einer Stelle aus, die ich nicht sehen konnte, jemand Strom zugeschaltet hat. Durch den Kontakt sind meine Arme sehr heiß geworden und regelrecht geschmolzen. Der Rest vom Körper, vor allem der Rumpf, enthält mehr Flüssigkeit, daher ist der nicht so heiß geworden.

In dem Moment habe ich das gar nicht so mitgekriegt. Mein Glück war aber, dass ich in einem Krankenhaus in Opladen bei Köln operiert worden bin und der Operateur ein Arzt war, der sich aufgrund seiner Kriegserfahrung mit Amputationen auskannte. Bei mir hat er dann eine so genannte Exartikulation, eine Amputation am Schultergelenk, gemacht. Ich habe also dem Fachwissen dieses Arztes mein Leben zu verdanken.

 

Angeblich war einer Ihrer ersten Gedanken im Krankenhaus, dass Sie gerne eine Spritztour machen würden. Stimmt das?

Ja, das stimmt. Da müssen Sie ein bisschen meine Vorgeschichte kennen. Schon als junge Menschen haben wir uns damals für Technik und Autos interessiert. Ich stamme aus Zwickau, wo bis Kriegsende die Audi-Werke waren. Da war der Draht zum Auto quasi angeboren. 1955 bin ich von dort weggegangen, per „Verwandten-Besuch“, von dem ich nicht mehr zurückkehrte.

Ich habe dann schnell Arbeit bei ABB in Mannheim gefunden und mir von meinem Ersparten mein erstes gebrauchtes Auto gekauft. Einen Käfer, noch mit der „Brezel“ hinten. Nach ein paar Monaten dann der Unfall. Sie können sich heute wahrscheinlich nicht mehr so recht vorstellen, aber wenn man damals erst mal das eigene Fahrgefühl geschnuppert hat, will man es nicht mehr missen. Die Fäden der Operation waren also noch nicht gezogen, da habe ich schon drüber nachgedacht, wie ich wieder Auto fahren könnte.

 

Autofahren macht auch heute noch jungen Leuten Spaß …

Ja. Aber damals war der Hang zur Mobilität oder zum Autofahren ein ganz anderer. Heute wachsen die jungen Leute ja damit auf. Früher war das etwas Besonderes, noch neu und exklusiver. Da ist man sonntags noch rausgefahren, ins Grüne. Oder ging Verwandte besuchen. Man hat die Familie eingepackt und ist eine Runde mit dem Auto gefahren. Es war Freiheit, Luxus. Auch mit einem kleinen Auto.

 

Ist Ihnen durch diesen Antrieb die Idee mit dem Lenksystem gekommen?

Ich war nach dem Unfall in Wuppertal in einer Art Reha, von dort bin ich nach Düsseldorf zum TÜV gegangen und habe denen gesagt, dass ich vorhabe, wieder Auto zu fahren. Der Sachverständige hat mich erst mal mit großen Augen angeguckt. Ich habe gesagt, ich hätte gerne ein Stück Papier von amtlicher Stelle, wo drinsteht, dass ich, wenn ich die technischen Voraussetzungen habe, selber fahren kann. Das Schreiben habe ich bekommen.

Zudem musste ich einen MPU-Test machen, den so genannten „Idiotentest“, damit amtlich war: Der Herr Franz ist geistig gesund, beweglich und hat eine gute Reaktionszeit. Mit diesen Papieren bin ich dann losgezogen. Immerhin hat man mich ernst genommen.

 

Sie haben sich nicht erst ans Tüfteln gemacht, sondern zuerst die amtlichen Voraussetzungen geschaffen?

Genau. Erst dann haben wir angefangen zu entwickeln; in einer angemieteten Garage. Ich war bei der Firma Stotz in Heidelberg als Sicherheitsfachkraft eingestellt. In dem Werk gab es eine Mustermacherei. Dort arbeiten Ingenieure, die sozusagen das in Materie umsetzen, was die Entwickler sich ausdenken. Zwei, drei Kollegen konnte ich überzeugen, mit mir in der Garage das System zu entwickeln und zu bauen. In der Freizeit, meistens am Samstag und mindestens über zwei Jahre ging das.

 

Das klingt, als sei das heute in der Form nicht mehr so leicht möglich?

In den 60er Jahren war in den Firmen noch ein gewisser sozialer Gedanke vorhanden. Wir hatten auch einen vernünftigen Geschäftsführer, und ich durfte einige Teile in der Versuchswerkstatt bearbeiten. Manches ging nicht zuhause, da brauchte es Spezialmaschinen. Ich habe immer alles bezahlt, aber es waren andere Zeiten. Man hat auch mal ein Auge zugedrückt.

 

Was haben Sie gemacht, als alles funktionierte?

Da schließt sich der Kreis. Mit meinen Bescheinigungen bin ich zum TÜV in Mannheim gegangen. Ich hatte ja amtlich, dass ich wieder Auto fahren kann, wenn ich das technische Gerät dafür habe. Also bin ich dort vorgefahren und habe gesagt: bitteschön, auf dem Hof steht ein Wagen mit einem Lenksystem, das ich entwickelt habe und mit dem ich hergekommen bin. Dann haben sie sich das interessiert und gründlich angeguckt.

 

In was für ein Fahrzeug haben sie den Prototypen damals eingebaut?

Das war ein Renault RS 8. Das war zu dieser Zeit, also Mitte der 60er Jahre, das kleinste Auto mit Automatikgetriebe. Die Automatik war Voraussetzung. Viele solcher Modelle gab es damals noch gar nicht.

 

Wie kam es dazu, dass Ihre Erfindung auch für andere Menschen mit Einschränkungen an den Armen eine Option wurde?

Ich war mit Professor Marquardt in Heidelberg gut bekannt. Erstens über meine Prothese – und meine Frau war seine Sekretärin. Als er von meinem Auto hörte, sagte er, Mensch, das ist doch was für meine Contergan-Kinder! Die kamen damals gerade in das Alter, wo man den Führerschein macht. Prof. Marquardt hatte noch einen Bruder bei VW in Wolfsburg. So entstanden die Verbindungen zu meiner Firma. Ich habe dann den Auftrag erhalten, das Ganze auf eine professionelle Basis zu stellen. Bei ABB konnten wir dann die Umbauten professionell umsetzen. So hat es dann den Namen „System Franz“ bekommen und wurde beim TÜV zugelassen.

 

Die damals noch jungen Menschen mit Conterganschädigung haben das Lenk-System dann sofort für sich entdeckt?

Ja. Die ersten von ihnen habe ich anfangs auch beraten. Was der Umbau kostet, welche Voraussetzungen das Auto haben muss usw. Finanziert wurden die Umbauten über die Sozialämter oder Landschaftsverbände. Auch da habe ich geholfen, Formulare und Aktenzeichen zu besorgen. Die habe ich dann den Eltern in die Hand gedrückt und sie damit zu ihrem Kostenträger geschickt. Da konnten die dann nicht anders, als sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen.

Die ersten Autofahrer mit Conterganschädigung wurden bei meinem Bekannten hier in Heidelberg ausgebildet. Bei den ersten zehn bin ich zeitweise mitgefahren und habe Ratschläge gegeben – vor allem was die Sicherheit betrifft. Stellen Sie sich vor, von denen wäre jemand verunglückt! Ich wollte kein Risiko eingehen und die Sache so sicher wie möglich machen. Dabei ist nicht nur die Technik entscheidend gewesen, sondern auch das ganze Drumherum. Auch das Fahrverhalten.

 

Ist das „System Franz“ speziell für Kurzarmer und Kurzarmerinnen geeignet?

Das System kann mit den unteren Extremitäten betätigt werden. Es ist ein Fußlenkungssystem. Ohne Beine geht es nicht. Ich habe immer gesagt, Leute, ihr müsst in den unteren Extremitäten beweglich und klar im Kopf sein, das sind die wichtigsten Voraussetzungen. Und mir ist nur ein einziger Unfall bekannt, da hat ein Contergangeschädigter einen Nichtgeschädigten mit dem System fahren lassen - und das ist in die Hose gegangen.

 

Die Menschen mit Conterganschädigung sind Ihnen persönlich sehr dankbar. Erreicht Sie diese Dankbarkeit?

Ja, immer wieder. Der einheitliche Tenor der Menschen ist: Ohne Auto wären wir nicht da, wo wir heute sind. Einige konnten studieren oder eine Ausbildung absolvieren, weil sie mobil waren. Oder sie berichten, wie schön es war, dass man die Oma, die Geld zum Auto gegeben hat, hinterher besser besuchen konnte. Da gibt es viele schöne Geschichten. Zuletzt, beim Geburtstag des Landesverbandes Contergangeschädigter Baden-Württemberg, habe ich viele getroffen, die ich im Grunde seit ihrer Pubertät kenne. Für sie alle war Unabhängigkeit in der Mobilität etwas ganz Wichtiges. Mein Lenksystem hat ihnen Freiheit gebracht.

 

Ihr System wird nun nicht mehr verbaut. Wie resümieren Sie ihr „Lebenswerk“ heute?

Ich war in einer glücklichen Phase aktiv, in mir viel Verständnis von entscheidenden Leuten entgegengebracht wurde. Ich hatte Professor Marquardt im Boot und hatte damals einen Geschäftsführer und mehrere Kollegen, die mir geholfen haben. Das muss alles zusammenpassen, sonst geht es nicht.

Heute führt ein ganz anderes Management die Firma ABB. Seit Anfang dieses Jahres hat man per Schreiben mitgeteilt, dass die Abteilung geschlossen wird. Von Sommer 1980 bis jetzt sind die Autos alle auf derselben kleinen Brücke umgebaut worden. Etwa 1.200 für den deutschen Markt. Und es gab Nachbauten im Ausland, etwa in Japan und den USA. Ob und inwiefern es heute noch was Vergleichbares in Deutschland gibt, weiß ich gar nicht.

 

Was wünschen Sie sich für die Zukunft in diesem Bereich des barrierefreien Autofahrens?

Unser System hat viele Neuerungen und Modelle überdauert. Wenn man solche Hilfsmittel baut, sollten sie daher möglichst nicht störungsanfällig sein. Das heißt in erster Linie: nicht zu viel Elektronik. Was das so genannte autonome Fahren angeht, das geht mir alles etwas zu weit. Überlegen Sie mal, die ganzen Daten, da kann von außen zu viel eingegriffen werden. Früher war ihr Auto eben ihr Auto, und fertig. Natürlich gibt es durch Elektronik und Digitalisierung viele Vorteile. Etwa die Sprachsteuerung. Aber wenn zu viel davon drin ist, rate ich immer: Passt auf!

 

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