Das Foto zeigt Finola Cassidy

"Mein Vater wollte, dass ich die richtige Version der Geschichte kenne."

Das Mittel Contergan war nicht nur im Heimatland der Herstellerfirma Grünenthal erhältlich. Auch in anderen Ländern Europas wurde der Wirkstoff Thalidomid ab Ende der 1950er unter verschiedenen Namen im freien Handel vertrieben und fatalerweise auch dort von vielen schwangeren Frauen eingenommen. In der Folge kämpften Eltern für ihre geschädigten Kinder. Später standen diese selbst für ihre Interessen ein.

2006 gründete sich in Irland die Irish Talidomide Association. Deren Vorsitzende Finola Cassidy haben wir interviewt und hören mit ihr eine kämpferische, aber auch sehr kritische Stimme. Als größtes Problem stellt Cassidy die unterschiedlichen Versorgungslagen und politischen Verantwortlichkeiten heraus, die einen einheitlichen Umgang mit den monetären und medizinischen Bedürfnissen aller Betroffener erschweren. Eine schwere und komplexe Aufgabe – gerade für die Conterganstiftung.


Frau Cassidy, könnten Sie uns einen kurzen Überblick über die Geschichte des irischen Conterganverbandes geben? Wie wurde er ins Leben gerufen und welche Ziele verfolgt er?

 

In den 1970er Jahren wurde die Elternvereinigung für Gerechtigkeit für Contergan-Kinder (Parents Association for Justice for Thalidomide Children) gegründet. Mein Vater, Cormac Kilty, war einer der Gründereltern. Eltern schlossen sich zu einer Gruppe zusammen, als das ursprüngliche deutsche Verfahren gegen Grünenthal gescheitert war. Sie wollten sicherstellen, dass die irischen Kinder bei einer Entschädigung nicht auf der Strecke bleiben. Für diese kleine Gruppe war es aufgrund der Sprachbarriere sehr schwierig, sich mit einem Rechtsfall in Deutschland zu befassen.

 

Thalidomid war also auch in Irland weit verbreitet?

Ja. Der Wirkstoff Thalidomid kam Ende der 1950er Jahre in zehn verschiedenen Markenprodukten aus Deutschland hierher. Der größte Verkaufsschlager hieß Softenon. Allein im Jahr 1961 wurden in Irland 51.000 Packungen dieses Produkts verkauft.

Was geschah, als klar wurde, dass Thalidomid für die Missbildungen verantwortlich war?

Die Eltern wurden gebeten, sich zu melden, wenn sie der Meinung waren, dass die Missbildungen ihres Kindes durch Thalidomid verursacht wurden. Der irische Staat versäumte es jedoch, im November 1961 zu handeln und sofort ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass dieses Medikament vom Markt genommen werden musste. Viele unserer Mitglieder waren also unnötigerweise betroffen, weil ihre Mütter Contergan weiterhin einnahmen.

Schließlich nahmen unsere kampfmüden Eltern 1974 ein Angebot des irischen Staates an, das die unserer Ansicht nach zu geringen Zahlungen der deutschen Conterganstiftung ergänzte. Einige Betroffene blieben seit den 1970ern in Kontakt untereinander.

 

Dann ist länger nicht passiert, bis zum Jahr 2006. Was geschah da?

Nach einem Interview im nationalen irischen Radiosender RTE in 2005 meldete sich ein Überlebender in der Sendung und forderte alle anderen, die sich für Contergan-Überlebende hielten, auf, sich zu melden. So wurde ein Jahr später die Irish Thalidomide Association gegründet. Wir beschlossen, uns beim irischen Staat für folgende Ziele einzusetzen:

  1. Eine Entschuldigung,
  2. eine angemessene Entschädigung,
  3. Gesundheitsversorgung und
  4. Anerkennung derjenigen, die bisher nicht anerkannt worden waren.

Damit begann ein sehr langer und schwieriger Kampf. Die Fakten, die seit 2006 anhand von Akten aus dem Nationalarchiv der 1960er Jahre ermittelt wurden, zeigten zum ersten Mal, wie sehr sich der irische Staat damals mitschuldig gemacht hatte.

 

...seit dem ersten Einsatz von Contergan ist inzwischen viel Zeit vergangen.

Ja, das stimmt. Viele unserer Mitglieder haben seit 2013 rechtliche Schritte gegen Grünenthal, die irischen Vertriebsunternehmen und verschiedene Stellen des irischen Staates sowie den Gesundheitsminister eingeleitet. Das Verfahren vor dem irischen High Court ist ziemlich festgefahren, da es heißt, wir könnten unseren Fall aufgrund von Verjährung gar nicht mehr vorbringen.

Wir haben daher den 60. Jahrestag der internationalen Rücknahme von Contergan genutzt, um unsere Kampagne neu zu beleben. Seit November 2021 haben wir darauf aufmerksam gemacht, dass es in Irland etwa 40 Überlebende gibt. Die meisten sind anerkannt, aber andere streben die Anerkennung immer noch an. Viele in der Politik halten sich sehr zurück, da sie finden, dass diese Tragödie nicht unter ihrer Aufsicht geschehen ist.

 

Sie sind selbst von einer Schädigung durch Thalidomid betroffen. Wie sind Sie zur Betroffenenvertreterin geworden?

Mein Vater erzählte mir als ich 12 war, dass meine Behinderung durch ein Medikament verursacht wurde, das meine Mutter während der Schwangerschaft eingenommen hatte. Er wollte, dass ich die richtige Version der Geschichte kenne.

Als wir später zu unserem ersten Treffen zusammenkamen, hob ich die Hand und sagte, ich würde das Tippen übernehmen. Ich hatte mehr Finger als andere! Allerdings hätten wir nie geglaubt, dass wir 15 Jahre später immer noch kämpfen würden.

 

Wie würden Sie die Situation der Betroffenen in Irland bzw. auf den britischen Inseln im Vergleich zu Deutschland beschreiben?

Wie bei uns in Irland waren auch in Deutschland politischer Wille und Verständnis erforderlich, um die Contergan-Gesetze zu ändern. Viele haben hart dafür gekämpft.  Ähnlich im Vereinigten Königreich, wo die Diageo-Gruppe und die entstandenen Parlamente von Schottland, Nordirland und Wales sowie die englische Regierung lebenslange Verpflichtungen für die finanziellen und gesundheitlichen Bedürfnisse der Überlebenden eingegangen sind. Das gibt ihnen große Sicherheit für das letzte Viertel ihres Lebens.

Die irischen Überlebenden sollten eigentlich gleichberechtigte Begünstigte der Conterganstiftung sein.

Einer der eklatantesten Unterschiede ist jedoch der zwischen der Versorgung, die Überlebenden in Deutschland zur Verfügung steht, und der Realität in Irland. Wir haben keine speziellen Kompetenzzentren. Bei den meisten Interaktionen im Gesundheitsbereich ist der Begriff Contergan hier immer noch ein Fremdwort.

 

Sie sprechen von „gleichberechtigten Begünstigten" in Irland?

Jeder der Menschen mit Conterganschädigung hat durch die "Medical Card" eigentlich Anspruch auf eine kostenlose hausärztliche Versorgung und Zugang zu medizinischer Betreuung. Doch leider ist das irische Gesundheitssystem zusammengebrochen. Wenn zum Beispiel die Gelenke schmerzen (wie es bei uns allen täglich der Fall ist), müssen Sie sich auf eine Warteliste für eine Physiotherapie setzen lassen. Nach etwa einem Jahr Wartezeit haben Sie dann einen Platz bei einem Physiotherapeuten, der noch nie etwas von der Contergan-Geschichte gehört hat. Leider ist Contergan der heutigen Generation weitgehend unbekannt. Das hat fatale Folgen in der medizinischen Versorgung der Betroffenen.

Wir hören – zugegeben, mit etwas Neid – dass die Conterganstiftung über die Medizinischen Kompetenzzentren und gezielte Ansätze für den Umgang mit Schmerzen und den Bedürfnissen der Überlebenden umfassend informiert. Die Conterganstiftung wurde aber nicht als rein nationale Organisation für Deutschland gegründet, sondern als internationale Organisation, die sich an alle richtet, die an dem ursprünglichen Gerichtsverfahren gegen Grünenthal beteiligt waren. Aber irgendwie ist dies im Laufe der Jahre untergegangen.

Wir mussten die Conterganstiftung wiederholt darum bitten, die wichtigsten Anträge, Merkblätter und Infobriefe für unsere Mitglieder auf der Website zu übersetzen.

 

Sie sehen die Dinge also auf einem guten Weg?

Nun, das bringt mich zu einem wichtigen Punkt. Das Inkrafttreten des neuen Conterganstiftungsgesetzes 2013 bedeutete, dass sofort alle Zuwendungen von Dritten oder Staaten an Begünstigte der Conterganstiftung als „Doppelzahlung" gelten und von der deutschen Contergan-Zahlung abgezogen werden müssten.

Die irischen Beträge sind aber nur ein Bruchteil der Contergan-Zahlungen. Durch den Abzug dieser Beträge nach deutschem Recht wurde das Spielfeld für uns noch unwegsamer! Zum Beispiel haben hier in Irland einige unserer Mitglieder keinen Anspruch auf staatliche Invaliditätszahlungen, wenn der Ehegatte/Partner arbeitet. Viele haben keine private Krankenversicherung, die ihnen den vorrangigen Zugang zur Gesundheitsversorgung ermöglichen würde. Für die irischen Überlebenden bedeutet dies eine reale Notlage.

Dank Vermittlung deutscher Contergan-Überlebender wurden wir mit dem sehr engagierten Dr. Oliver Tolmein (Rechtsanwalt, Anm. d. Red.) bekannt gemacht. Unter seiner Führung begann eine weitere Reise durch die deutschen Gerichte. Nun warten wir auf das Urteil der Obersten Instanz und drücken unsere speziellen Daumen, dass wir gewinnen und die Zahlungen angepasst werden.

 

In welchen Bereichen ist ein gemeinsames Vorgehen im Hinblick auf die aktuellen Forderungen und Pläne der Betroffenen und ihrer Vertretenden relevant?

Es gibt viele Gemeinsamkeiten. Wir lernen voneinander bei unseren juristischen Auseinandersetzungen, bei unseren Regierungskampagnen und von unserem gemeinsamen Wissen. Niemand, keine Universität, Stiftung, Behörde oder Regierung wird uns so gut kennen, wie wir uns gegenseitig kennen. Manchmal müssen wir mutiger sein, um unsere Schwierigkeiten zu teilen. Wenn man nicht der Einzige ist... das ist ein Trost.

Foto: Mit freundlicher Genehmigung von The Irish Times 

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