Das Bild zeigt Dr. Karin Berg-Kotterba, Mutter eines Sohnes mit Conterganschädigung

„Mach Dir keine Vorwürfe, Mama. Mir geht es doch prima!“

Im Rahmen unserer Reihe „60 Jahre Conterganskandal“ haben wir mit der heute 94-jährigen Dr. Karin Berg-Kotterba gesprochen. Sie berichtet von unsicheren Mitmenschen, engagierten Lehrern und aggressiven Mitschülern sowie eigenen Vorwürfen.

 

Frau Berg-Kotterba, Matthias ist das mittlere von drei Kindern. Wie war es damals, als Sie erfuhren, dass er eine Behinderung hat?

Als ich meine Kinder bekam, gab es noch keine Voruntersuchungen, wie sie heute üblich sind. Ich habe es also erst bei der Geburt erfahren, dass Matthias behindert ist. Ich sah, wie die Schwestern und der Arzt um den Neugeborenen standen, der in ein Handtuch eingewickelt war. Und ich merkte, wie überrascht, fragend sie sich anschauten. Es gab zunächst die Überzeugung, dass das Kind ohne Arme unmöglich würde überleben können. Meine Mutter sagte dann voller Überzeugung den entscheidenden Satz: „Das Kind will leben!“ Das war für alle eine Art Initialzündung.

 

Man hört oft, dass die Ärzte mit solch einer Situation nicht umzugehen wussten.

So war es auch bei uns. Ärzte und Pflegerinnen waren eigentlich unsicherer als ich selbst. Ich hatte das Glück, dass ich zwei sehr freundliche Schwestern und einen sehr anteilnehmenden Arzt hatte, die mir auch sehr geholfen haben in meiner eigenen Unsicherheit und Verzweiflung. Ich hatte Bilder im Kopf: Verschüttet sein im Krieg. Jeder kann sich aus den Trümmern herausgraben, er aber nicht! Oder, was passiert, wenn er auf einer Treppe stürzt? Er könnte sich nicht abstützen oder festhalten. Das waren Albträume für mich.

 

Wie haben Sie diese Ängste und Albträume überwunden?

Ich merkte, wie aktiv der Kleine selbst war. Er machte schnell deutlich, dass alles andere, allem voran Füße und Beine, funktionieren würde. So lutschte er nicht am Daumen, sondern eben am großen Zeh! Er war sehr aktiv und vital. Er schien das einfach alles anzunehmen, und die Füße und Beine oder auch den Kopf statt der Hände und Arme einzusetzen. Er wirkte geradezu unbeschwert. Thilo, mein Ältester, hatte viel größere Probleme. Er fragte sich, warum die Arme nicht wuchsen und weinte fürchterlich. Der Kummer des älteren Bruders war größer als die des kleinen. 

 

Die gesellschaftliche Lage war Anfang der 1960er noch eine gänzlich andere. Die junge Republik war mit dem Wirtschaftswunder und der Überwindung von Nazizeit und Krieg beschäftigt. Das Thema Behinderung war da eher tabuisiert.

Ja. In der Nachbarschaft gab es anfangs viel Ablehnung. Wir lebten damals in einem kleinen Vorort von Detmold, sehr dörflich. Die Leute fragten sich, was haben die Eltern denn gemacht, dass sie so ein Kind bekommen? Man dachte, dass der Grund die Strafe für irgendein Vergehen sein musste. Da war viel Unsicherheit dabei. Aber ich bin mit dem Kind von Anfang an ganz offen umgegangen.

Die Leute brauchten eine Erklärung. Und die kam bald in Form eines Zeitungsartikels in der Welt am Sonntag und anderer Berichte über Contergan. Da begriffen sie, aha, die Eltern haben nichts Seltsames verbrochen, es war ein Medikament. Von da an wollten sie freundlich und zuvorkommend sein, wussten aber nicht wie. Man wusste zum Beispiel nicht, was soll man einem Kind ohne Arme schenken? Eine Rassel, Spielzeug, ein Jäckchen? So kam ich zu einer großen Sammlung an Vasen [lacht].

 

Wie haben Sie selbst die Verbindung zu dem Mittel Contergan hergestellt?

Matthias ist Anfang Oktober geboren. Bekannt wurde der Skandal ab Ende November. Da hieß es: Contergan hat viele Behinderungen ausgelöst! Ich dachte, ich lese nicht richtig! Als ich in meiner Hausapotheke nachgesehen habe, fand ich tatsächlich die Contergan-Tabletten. Als ich mit Matthias schwanger war, lebten wir noch in Dortmund. Es war eine unruhige Gegend, in Bahnhofsnähe, auch nachts war es oft laut. Mein Arzt, der die Schwangerschaft begleitete, erklärte mir, ich müsse dringend etwas einnehmen, um besser schlafen zu können. So kam ich an Contergan. Es war Ende Februar 1961, in der entscheidenden Zeit für die Entwicklung der Arme und Beine beim Fötus, wie man später herausfand. Ich habe also zwei oder drei davon eingenommen und konnte schlafen. Anfang März zogen wir in einen sehr ruhigen Vorort von Detmold und ich konnte endlich ruhig schlafen. Klarheit hatte ich erst durch das Bekanntwerden des Contergan-Skandals.

 

Haben Sie daraufhin den Kontakt zu anderen Eltern mit geschädigten Kindern gesucht?

Meine Freundin Hannelore, die ich noch aus meiner Geburtsstadt Görlitz kannte, hatte bereits im Mai ein Kind ganz ohne Arme geboren. Auch sie hatte Contergan eingenommen. Das Bild fügte sich also Stück für Stück zusammen. Sie ist Matthias‘ Patentante und ich bei ihrer Tochter Bettina, die sich übrigens wie Matthias auch prächtig entwickelt hat. Sie hat zum Beispiel bei den Paralympics die Silbermedaille im Reiten gewonnen.

Es gab im Zuge der Aufarbeitung des Skandals auch Kontakte zu anderen Eltern, etwa bei der Befragung betroffener Mütter und Eltern. Diese Kontakte haben sich aber schnell wieder verlaufen.

 

Wie sind Sie damit umgegangen, dass sie zwei nichtbehinderte Kinder neben einem mit Conterganschädigung hatten? Haben die gesunden Kinder zurückstecken müssen, weil das Kind mit Behinderung die Aufmerksamkeit und Energie der Eltern absorbiert?

Zunächst habe ich alle drei zuhause aufgezogen. Keines der drei ist in den Kindergarten gegangen. Ich wollte meine Kinder nicht von Fremden erziehen lassen, das war mein Ansatz. Dadurch sind die drei Geschwister miteinander aufgewachsen, haben viel Zeit miteinander verbracht, haben sich gegenseitig geholfen und sich wunderbar verstanden. Das fühlte sich alles sehr selbstverständlich an.

 

Wie war denn die Zeit in der Schule? Da fehlt ja der Schutzraum der Familie.

Matthias hatte in der Volksschule einen sehr guten Lehrer, der sich voll auf ihn einstellte. Es waren die Eltern der anderen Kinder, die sich gegen die Situation mit einem behinderten Kind in der Klasse wandten. Aus Angst, ihre Kinder kämen zu kurz, weil zu viel Aufmerksamkeit auf meinem Sohn läge. Der Lehrer hat das wunderbar wegmoderiert und gesagt, lassen Sie uns das probieren. Und wenn ihre Kinder zu kurz kommen, werden wir entsprechend reagieren – es kam kein Kind zu kurz.

Als wir dann nach Trossingen zogen, Matthias war 9 oder 10 und ging in die letzte Volksschulklasse, wurde es schwieriger. Auch, weil ihn in unserem alten Wohnort alle von Geburt an kannten. Hier haben die neuen Mitschüler ihn erst mal abgelehnt. Da gab es ein paar Charaktere, die ihn aufzogen oder körperlich angriffen. Ich habe später herausgefunden, dass er sich auf dem Heimweg in Einfahrten versteckt hat, bis die Rüpel vorbeigegangen waren. Er war zu stolz, mir davon zu erzählen. Aber er kam immer zu spät zum Mittagessen, so habe ich das herausgefunden. Auf dem Gymnasium war es auch nicht so einfach. Doch da er ein guter Schüler war, ging es. Die Musik und der Sport haben ihm geholfen. Sein Körpergefühl beim Reiten und Skifahren ist schon außergewöhnlich.

 

Glauben Sie, dass die Conterganschädigung eine entscheidende Motivation war, nach dem Motto: Ich muss besser sein als die anderen?

Zum einen hat er ein gutes Erbe. Meine Familie ist und war immer sehr sportlich und musikalisch. Hier hat er viel mitbekommen und er hat eben viel draus gemacht. Der Antrieb kam sehr viel aus ihm selbst heraus, auch weil er wusste, besser sein zu müssen. Als er dann als Jugendlicher seine Durchhänger hatte, habe ich ihn allerdings antreiben müssen.

 

Contergan ist dennoch eine Bürde, die einen lebenslang begleitet…

Ja. Das Absurde ist, ich bin schon von klein auf sehr naturverbunden aufgewachsen. Ich hatte verinnerlicht: Das Natürliche ist gut. Medikamente? Besser gar nicht. Gespritztes Obst? Niemals. Und dann nimmt man einmal eine solche Tablette ein….

 

Obwohl Sie es nicht wissen konnten, haben Sie sich Vorwürfe gemacht?

Ja. Ganz klar. Ich sagte mir: Mein Sohn ist so, weil ich das Medikament genommen habe. Es gibt also diese Schuldgefühle. Oder sagen wir: gab. Denn dadurch, dass sich Matthias von Anfang an so gut durchgeschlagen hat, wurde es mir leichter gemacht. Ich habe auch oft mit ihm darüber gesprochen. Er sagte: „Ach Quatsch! Vergiss das, Mama. Mir geht es doch prima! Ich konnte und kann immer alles machen, was ich will.“ Das hilft mir natürlich enorm.