Die Darstellung zeigt drei Fotos von der Veranstaltung

„Haben Sie schon mal von Contergan gehört?“

Die Begriffe Contergan oder Conterganskandal kennen jüngere Menschen meist nur selten. Wer heute studiert, der wurde rund 40 Jahre nach dem Conterganskandal geboren. Um für (ein wenig) Aufklärung zu sorgen, hat die Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen am Standort Köln eine Veranstaltung für ihre Studierenden angeboten. Darin ging es einerseits um die Geschichte des Skandals und seine Auswirkungen bis heute. Andererseits hatten die Studierenden die Möglichkeit zum direkten Gespräch mit einer Geschädigten. CIP war vor Ort.

 

Contergan? Bei Jüngeren nahezu unbekannt

Treppen und ein Aufzug führen ins Untergeschoss der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen am Standort Köln. Dort liegt das Audimax, in dem sich die Studierenden des Studiengangs Soziale Arbeit für die Vorlesung „Contergan – was bedeutet das für Sie?“ einfinden. Die Veranstaltung ist Teil einer Reihe, die sich mit Behinderungen und Beeinträchtigungen befasst. Der Saal erinnert an ein Kellertheater, in dessen Zentrum die drei Rednerinnen Platz nehmen: Birgitta Sträter, Professorin für Sozialmedizin, die Studentin und Mitinitiatorin Sabine Kuxdorf – Leserinnen und Lesern des CIP durch Ihre Podcast-Reihe bekannt (hier abrufbar) – sowie Sofia Plich, Diplom Sozialpädagogin mit Conterganschädigung.

„Wer von Ihnen hat zuvor schon mal etwas von Contergan gehört?“ Auf die Einstiegsfrage gehen lediglich drei, vier Hände nach oben. Den allermeisten der etwa 50 Anwesenden sagt das Thema wenig bis nichts. Sie sind Anfang zwanzig, der Skandal liegt lange vor ihrer Geburt. Nur wenige haben über ihre Eltern von dem Skandal gehört. Zur Aufklärung gibt Dozentin Birgitta Sträter einen historischen und fachlichen Überblick: Was ist damals eigentlich geschehen, wie konnte so was überhaupt in der noch jungen Republik passieren, was waren die medizinischen, politischen und – allen voran – die vielen persönlichen Konsequenzen für die Betroffenen und deren Familien?

 

Auch der Rahmen einer Begegnung ist entscheidend

Durch den Studiengang Soziale Arbeit sind die Studierenden offensichtlich sensibilisiert für die Thematik Behinderung und körperliche Beeinträchtigung. Die offene Fragerunde ist entsprechend von Interesse, Neugier und großer Sensibilität geprägt. Sofia Plich geht schnell in die Offensive und möchte wissen, welchen ersten Eindruck sie selbst auf die Studierenden gemacht hat.


Für einige ist diese Offenheit irritierend, wie eine Studentin zugibt. Natürlich würden die verkürzten Arme auffallen, aber sie und einige andere im Saal sagen, sie hätten nicht Contergan als Ursache vermutet. Einfach, weil sie noch nie etwas von einer Conterganschädigung gehört hätten. Eine Studentin rückt den Kontext der Begegnung in den Fokus: Ihre Wahrnehmung sei sehr durch den Rahmen beeinflusst, in dem sie Frau Plich begegne – auf einer Bühne sitzend, als Teilnehmerin einer Gesprächsrunde, geladen durch die Hochschule. Im Supermarkt oder auf der Straße wäre ihre Wahrnehmung womöglich eine ganz andere, in jedem Fall flüchtiger, gewesen.

Eine andere Studentin gibt zu, dass ihr erster Eindruck sehr durch ihre „Sozialarbeiterinnenbrille“ geprägt sei. Sie arbeite bereits viel mit Personen mit körperlichen Einschränkungen zusammen und hätte daher „in ihrem Kopf sofort ein kleines Hilfskonzept ausgearbeitet“: Wie kann man dieser Frau am besten helfen? Was braucht sie? Was kann ich für sie tun?

 

Als Mensch gesehen werden – nicht als Behinderte

Und hier liegt für Sofia Plich die Krux. Als Person mit Behinderung werde sie von nicht Beeinträchtigten – ‚Normis‘, wie sie sie nennt – häufig mit einem „defizitären Blick“ betrachtet. Das sei für sie die eigentliche Behinderung, „diese Reduzierung auf das Behindertsein“.  Damit gehe allerdings eine gewisse Distanzlosigkeit einher. Sie wünsche sich mehr Distanz, und zwar „mehr als meine Arme lang sind – das ist mir zu nah.“ Man werde zu oft als Objekt wahrgenommen und auf die Behinderung reduziert. Sie erfahre entweder Hilflosigkeit bei anderen oder Übergriffigkeit. Das schlimmste allerdings, sagt sie, sei Mitleid. Ein Aspekt, den einige Studierende aus ihrer Arbeit heraus nachvollziehen können.

Ein Weg hinaus aus einer gewissen (Selbst-) Stigmatisierung führte Sofia Plich über das Schauspiel, insbesondere die Comedy. Sie erzählt, wie sie für einen Sketch in die „Rolle“ einer Contergan-Geschädigten geschlüpft sei und dadurch Distanz zu sich gefunden habe – das half ihr sehr. Ein weiterer wichtiger Aspekt sei zudem Humor. Und den zeigt Plich gerne und direkt.

 

Wut ist da keine mehr

Ob sie heute noch wütend sei, will eine Studentin wissen – auf Grünenthal oder auf ihre Eltern. Plich verneint das. Wut würde auch nichts mehr ändern. Ihre Eltern habe sie mit 30 erst kennengelernt. Aber die Dinge seien passiert und lägen lange zurück. Gravierender sei da eher der Mangel an Selbstbewusstsein, der aus ihren ersten Lebensjahren stammt und der sie lange begleitete. Sie berichtet dann über den teils traumatisierenden Umgang mit Kleinkindern auf den „Contergan-Stationen“. Kliniken, die als Heime bezeichnet wurden und nie Heimat sein konnten. Was sie heute wütend mache, sei die Reduzierung auf ihre verkürzten Arme. „Schließlich bin ich in erster Linie Mensch und nicht nur Contergan.“

Am Ende der Gesprächsrunde kommen Plich und die Studierenden überein: Alles dreht sich um den rechten Umgang mit dem Anderssein. Man dürfe nicht anders behandelt werden, weil man eine sichtbare Einschränkung habe. Man nehme schließlich auch niemanden weniger als Mensch wahr, weil etwa eine bunte Haarfarbe das Anderssein kennzeichnet. Warum sollte es bei verkürzten Armen oder anderen Einschränkungen anders sein?

 

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