Das Bild zeigt Herrn Bernhard Franke von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes

„Ein Attest ändert nicht die Gefährdungslage. Der Infektions- und Gesundheitsschutz hat im Zweifelsfall Vorrang.“

Eine Frau mit Conterganschädigung ohne Arme betritt in Zeiten der Corona-Pandemie eine Bäckerei ohne Mund-Nasen-Schutz. Zwar verfügt sie über ein entsprechendes Attest, das Aufziehen wäre ihr zudem gar nicht eigenhändig möglich. Dennoch wird sie des Geschäftes verwiesen mit dem Hinweis auf die Durchsetzung der geltenden Hygieneregeln und kann ihren Einkauf nicht fortsetzen.

Solche und ähnlich gelagerte Fälle häufen sich seit Beginn der Pandemie, in den Medien erscheinen immer wieder Berichte über ähnlich gelagerte Fälle – auch bei Menschen mit Conterganschädigung. Liegt hier eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung vor? Was sagt das Gesetz? Wie sieht es aus mit dem Hausrecht oder mit der Abwägung von Grundrechten und Gesundheitsschutz? Wir wollten es genauer wissen und haben zusammen mit Stiftungsvorstandsmitglied Margit Hudelmaier bei Bernhard Franke von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Berlin nachgefragt.  

 

Herr Franke, Ihre Webseite hat eine eigene Rubrik zum Thema „Diskriminierung in der Corona-Krise“. Kommt es durch die Pandemie zu mehr Diskriminierung?

BF: Die Zahl der Beratungen ist massiv angestiegen. Mit 6.000 Fällen waren es schon Anfang Dezember 2020 nahezu doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Darunter auch zahlreiche zum Thema Maskenpflicht. Doch es gab auch deutlich mehr Anfragen zu rassistischer Diskriminierung.  

 

Stellen Sie generelle Unsicherheiten im Umgang mit den Pandemie- oder Masken-Vorschriften bei Menschen mit Behinderung fest?

BF: Es gibt generelle Unsicherheiten, was die geltenden Gesetze und Bestimmungen betrifft, und zwar auf beiden Seiten. Also auch beispielsweise bei Ladenbesitzern. Es gibt Unsicherheiten darüber, wie man sich in Geschäften, in der Öffentlichkeit verhält und ebenso darüber, was ein Attest eigentlich bedeutet. Hier gibt es auch massiven Missbrauch durch die Corona-Leugner. Man muss klar sagen, dass die Leugnung der Pandemie keine Weltanschauung im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes ist und daher keine Grundlage für einen Diskriminierungsvorwurf sein kann. Die Corona-Leugner treten aber so auf und fühlen sich vielleicht sogar diskriminiert, sie bringen damit jedoch Menschen mit medizinischen Attesten und begründeten Anliegen in Misskredit.

 

Frau Hudelmaier, wir haben Ihren Fall eingangs schon beschrieben. Sie haben ein medizinisches Attest. Was ist vorgefallen?

MH: Ich war mit meinem Mann allein im Geschäft und trug keinen Mund-Nasen-Schutz. Die Verkäuferin fragte nach der Maske, ich erklärte, dass ich ein Attest hätte. Trotzdem könne ich nicht bleiben, sagte sie, und verwies mich des Ladens. Als ich mich wehrte, man könne mich deswegen nicht nach draußen schicken, kam die Filialleiterin. Sie sagte, sie würde von ihrem Hausrecht Gebrauch machen und schickte mich nach draußen. Wohl gemerkt, ohne selbst eine Maske zu tragen. Man würde mich stattdessen gerne draußen vor der Tür bedienen, hieß es. Aber ohne Maske kein Zutritt zum Verkaufsraum! Ich habe eine sichtbare Behinderung, ich kann keine Maske aufsetzen, das Attest spielte dennoch keine Rolle.

 

Herr Franke, handelt es sich hier um einen Fall von Diskriminierung?

BF: Zunächst sind wir kein Gericht, das dies im juristischen Sinne feststellen könnte. Und dass die Verkäuferin selbst keine Maske trägt, ist unpassend und zeugt von Inkonsequenz.

Dennoch liegt hier aus meiner Sicht keine Diskriminierung vor. Benachteiligungen können grundsätzlich zulässig sein, wenn sie sachlich gerechtfertigt und verhältnismäßig sind. Sachliche Gründe sind hier der Infektionsschutz und der Schutz der Beschäftigten. Frau Hudelmaier wurde augenscheinlich nicht wegen Ihrer Behinderung nach draußen geschickt, sondern aufgrund der Einhaltung geltender Regeln im Gesundheitsschutz. Wichtig ist auch, dass eine Alternative in Aussicht gestellt wurde, nämlich die Bedienung und Kaufabwicklung draußen vor dem Laden. Genau dafür machen wir uns in unserer Beratung stark: statt pauschal Verbote zu erteilen, sollten die Anliegen von Menschen mit Behinderung mitgedacht werden. Oft war genau das nicht der Fall, und das war und ist ein Problem.

MH: Das ist ja richtig. Aber dort draußen wären wir uns ja noch nähergekommen als im Laden. Das konterkariert doch den Infektionsschutz.

BF:  Die Virusausbreitung findet nun einmal vorrangig in Innenräumen statt. Und ich finde es richtig, dass die Eigentümerin der Bäckerei auch an die Gesundheit ihres Personals denkt.  

MH: Wir haben UN-Konvention, wir haben Selbstbestimmungsrechte und Inklusion. Was nutzt mir das alles als behinderter Mensch, wenn das Antidiskriminierungsgesetz keine Anwendung findet?

BF: Es ist richtig, dass wir das alles haben, und das ist auch gut so. Die Eintrittsverwehrung war dennoch verhältnismäßig. Über die Art und Weise kann man natürlich streiten und sich ärgern. Die Zutrittsverweigerung erfolgte allerdings aus einem sachlichen Grund, nämlich dem des Gesundheitsschutzes aller Anwesenden.

 

Das würde aber doch bedeuten, dass behinderte Menschen mit einem Masken-Attest sich de facto gar nicht im öffentlichen Raum bewegen können? Sie wissen ja nicht, welche Prioritäten ihr Gegenüber jeweils setzt – Infektionsschutz oder Inklusion.

BF: Doch, das können sie schon. Es ist dabei immer wichtig, abzuwägen. Der Infektions- und Gesundheitsschutz hat im Zweifelsfall Vorrang und wiegt schwerer. Er soll die Mehrheit der Menschen schützen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die Maskenpflicht von allen Behindertenverbänden in Deutschland einhellig begrüßt und ihre Einhaltung eingefordert. Menschen, die vom Tragen einer Maske befreit sind, erwerben ja nicht das Recht, sich über den Infektionsschutz und die geltende Gesetzgebung mit ihren Hygiene- und Abstandsregeln hinwegzusetzen. Ein Attest ändert nicht die Gefährdungslage. Zudem bestand und besteht eine Alternative zum Einkauf im Laden. Andere Geschäfte bieten Bringdienste an. Diese Alternativen sind immer in Betracht zu ziehen.

MH: Ich höre immer, ich sei eine Gefährdung, dabei bin ich ja ebenso gefährdet durch andere. Es demonstrieren Tausende ohne Abstand und Maske. Wo ist da die Abwägung? Und, was meine Alternativen beim Einkaufen angeht: Die Verkäuferin müsste ja viel näher an mich herantreten, wenn sie mich draußen bedient. Da fehlt mir die Verhältnismäßigkeit.

BF: Die Fälle sind nicht immer miteinander zu vergleichen. Über die Demonstrationen bin ich genauso fassungslos. Aber anders als bei den genannten Demonstrationen treffen Ladeninhaber hier eine Abwägungsentscheidung. Ebenso ein Arbeitgeber, der sein Personal schützen will und muss. Es sind unterschiedliche Akteure in unterschiedlichen Situationen.

 

Woran erkennt ein von der Maskenpflicht befreiter Mensch mit Conterganschädigung, wann der Infektionsschutz Vorrang hat?

BF: Dann, wenn er oder sie potentiell andere Menschen gefährden kann – also zum Beispiel in einem kleinen Laden oder wenn keine Alternative angeboten werden können wie die Bedienung im Freien.

 

Ist das Antidiskriminierungsgesetz dann nicht ein „zahnloser Tiger“, weil man sich nicht darauf berufen kann und am Ende immer das Argument Gesundheitsschutz vorrangig ist?

BF: Nein. Wir sehen ja gerade, dass sich mehr und mehr Menschen an die Antidiskriminierungsstelle wenden – und dass es sehr viele Bereiche gibt, in denen verbotene Diskriminierung auch von den Gerichten festgestellt wird, ob bei sexueller Belästigung, ob bei Zutrittsverweigerungen von Menschen mit Behinderungen im Konzert oder beispielsweise, wenn Menschen mit Schwerbehinderung nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden. Nur bei der Maskenpflicht kann eine Ungleichbehandlung durchaus zulässig und eben keine Diskriminierung sein.

MH: Ich finde das alles sehr bedenklich und unbefriedigend. Ich sehe, dass Menschen mit Behinderung trotz aller Gesetze und politischen Vorhaben nach wie vor der Willkür ausgesetzt sind. Das kann es ja so nicht sein.

 

Zurzeit können nur schriftliche Anfragen an die Antidiskriminierungsstelle gestellt werden. Wie sollen Menschen das bewältigen, die den schriftlichen Weg aus welchen Gründen auch immer nicht gehen können? Und: bekommt man eine ausreichend schnelle Antwort, so dass die knappen Fristen für eventuelle Klagen eingehalten werden können?

BF: Die telefonische Beratung mussten wir vorübergehend einstellen, da wir die Erreichbarkeit aufgrund des hohen Fragenaufkommens nicht mehr gewährleisten konnten. Ab Juni wird es aber eine neue Service-Hotline hierfür geben. Wir werden zur Bewältigung der Anfragen und aufgrund der Wichtigkeit des Themas drei weitere Stellen erhalten. Die Fristen, die man zwischen Ereignis und dem Ergreifen von Rechtsmitteln bei Diskriminierung einhalten muss, werden durch den Gesetzgeber im Übrigen von zwei auf sechs Monate verlängert.