Das Bild zeigt zwei Beamte mit vielen Aktenordnern

„Der Bürger ist durch den Conterganskandal mehr zu einem Souverän geworden“

Im zweiten Teil unseres großen Interviews mit dem Historiker Dr. Niklas Lenhard-Schramm von der Universität Hamburg sprechen wir über den Contergan-Prozess, die sich emanzipierende Öffentlichkeit und wie der Conterganskandal bis heute nachwirkt.

 

Herr Dr. Lenhard-Schramm, Contergan war mehrere Jahre auf dem Markt rezeptfrei erhältlich. Sie beschreiben, wie der Hersteller Grünenthal nach Bekanntwerden erster Nebenwirkungen zunächst beschwichtigt hat.

Aus unternehmerischer Logik heraus war es grundsätzlich das Bestreben von Grünenthal, das Mittel so lange wie möglich am Markt zu halten. Bei internem Bekanntwerden der Nebenwirkungen hat man daher vonseiten der Herstellerfirma zunächst beschwichtigt. Es wurde versucht, die Sache zu bagatellisieren und einen Zusammenhang zu leugnen und herunterzuspielen. Oder man versuchte, die Verantwortung auf den Konsumenten abzuwälzen. Dieser habe Contergan entweder falsch angewendet, sei Alkoholiker, habe eine Vorerkrankung oder leide an einer Allergie. All das lief noch weitestgehend ohne die Öffentlichkeit ab, ohne Medienberichte und erst recht ohne politische Kontrolle.

Irgendwann kam jedoch der Punkt, an dem Grünenthal mit Beschwichtigungen nicht mehr weiterkam und zugestehen musste, dass an den sich häufenden Nebenwirkungen – wir reden immer noch von Nervenschädigungen – was dran sein musste. An diesem Kipppunkt ging man in die Offensive und beantragte von sich aus eine Rezeptpflicht.

Das wirkte nach außen hin zunächst verantwortungsvoll und seriös. Wiederum begründete man den Schritt damit, dass einige Konsumentinnen und Konsumenten das Mittel angeblich unsachgemäß und verantwortungslos einnähmen. Ziemlich paradox vor dem Hintergrund, dass genau diese Sorglosigkeit Kern der Werbestrategie gewesen war. Die Rezeptpflicht war damals noch Ländersache und trat im Sommer 1961, in Bayern erst Anfang 1962 in Kraft. Da war das Mittel schon nicht mehr erhältlich.

 

Was musste geschehen, bis Contergan Ende November 1961 endgültig vom Markt genommen wurde?

Im August 1961 kam im „Spiegel“ erstmals ein Artikel, der sich an die breite Öffentlichkeit wandte. Zuvor waren solche Debatten ohne Kenntnis der so genannten „Laienöffentlichkeit“ verhandelt worden. Nun wurde über die Schädigungen durch Contergan öffentlich und in einem großen Nachrichtenmagazin berichtet. Wiederum einen Monat später kam ein erster Artikel über die gestiegene Zahl fehlgebildeter Neugeborener in Deutschland. Hier war der Zusammenhang mit Contergan zunächst noch gar nicht im Fokus. Das änderte sich schlagartig im November, als der Hamburger Humangenetiker Widukind Lenz schlüssig den Zusammenhang von Schwangerschaft und der Einnahme von Contergan herstellte, nachdem er mit betroffenen Familien gesprochen hatte. Immer noch sah sich Grünenthal nicht dazu gezwungen, das Mittel vom Markt zu nehmen.

Der nächste Kipppunkt war dann der Aufmacher in der „Welt am Sonntag“ am 26. November. In dem Bericht wird der Name Contergan zwar nicht erwähnt, doch allen ist zu diesem Zeitpunkt klar, um welches Medikament es sich handelt. Am nächsten Tag zogen die anderen Zeitungen nach – und Grünenthal hatte keine andere Möglichkeit, als Contergan vom Markt zu nehmen. Meine These ist, dass es ohne öffentlichen Druck und ohne die breite Medienberichterstattung nicht dazu gekommen wäre und die Firma das Ganze weiter in die Länge gezogen hätte.

 

Die Medien und die breite Öffentlichkeit waren also der entscheidende Faktor?

Definitiv. Die breite Öffentlichkeit wird hier zu einem neuen, entscheidenden Akteur in der Systematik der Regulierung von Arzneimitteln. Sie tritt – in Verbindung mit den Medien – erstmals als Regulativ auf den Plan, wo vorher Medizin, Pharmaindustrie und Wissenschaft mehr oder weniger unter sich geblieben waren. Durch diese Öffentlichkeit wurden die Akteure unter Zugzwang gesetzt. Grünenthal war ab diesem Punkt schlicht nicht mehr in der Lage, das Medikament weiter zu vermarkten. Die Regulierung war ab jetzt nicht mehr exklusiv in der Fachwelt verortet. Das führte in der Folge auch dazu, das Arzneimittelgesetz zu verschärfen.

Beginnend mit dem Conterganskandal formuliert die Öffentlichkeit auch erstmalig Ansprüche und Forderungen an die Politik: Kümmert euch, lasst so was nicht mehr zu! Wir können diesen Prozess bis heute beobachten. Etwa bei der gegenwärtigen Corona-Impfdebatte: Als über die Nebenwirkungen von „AstraZeneca“ berichtet wurde, musste der Gesundheitsminister sofort handeln und die Impfungen aussetzen.

 

Strafrechtlich konnte man Grünenthal nicht anklagen. Worum ging es genau im damaligen Gerichtsprozess?

Bei den Rechtsstreitigkeiten muss man unterscheiden zwischen den zivilrechtlichen Ansprüchen – Stichwort Schadensersatz – und den strafrechtlichen Konsequenzen. Das Strafverfahren wurde durch die Staatsanwaltschaft Aachen bereits im Dezember 1961 eingeleitet. Ohne den Nachweis einer strafbaren Handlung durch ein Gericht liefen die Zivilklagen der Betroffenen-Familien ins Leere, da die Beweislast bei den Klägern lag. Man wollte daher erst im Strafverfahren klären, ob Grünenthal widerrechtlich gehandelt hat.

Strafrechtlich belangt werden können nur Personen, keine Firma als Ganzes. Es ging also um die Frage, inwieweit sich einzelne Mitarbeitende bei Grünenthal strafrechtlich schuldhaft verhalten haben und inwieweit diese oder jene Handlung bzw. deren Unterlassung am Ende nachweislich für die Schädigungen durch Contergan verantwortlich zu machen war.

Es hat bis 1967 gedauert, bis überhaupt Anklage erhoben wurde. Allein die Anklageschrift zusammenzubringen, dauerte Jahre. Sie ist fast tausend Seiten lang. Ich habe mir im Landesarchiv die Prozessakten angeschaut: ein sieben Meter hoher Stapel auf einer Fläche von einem Quadratmeter.

 

Wie lauteten die genauen Anklagepunkte?

Die zivilrechtlichen Klagen konnten nicht alle einzeln geführt werden. Beim Strafprozess standen schließlich neun Personen vor Gericht. Es ging um Körperverletzung, fahrlässige Tötung und Verstoß gegen das damals noch sehr rudimentäre Arzneimittelgesetz. Doch trotz Millionen Blatt Papier, über 200 Gutachten und fast 300 Verhandlungstagen war es am Ende extrem schwierig, die Schuld von einzelnen Personen stichhaltig nachzuweisen.

Der gesamte Strafprozess ist auch deshalb interessant, weil er intensiv medial begleitet wurde und so die Öffentlichkeit gut informiert war. Deutlich wurde dabei die Diskrepanz zwischen dem Gerechtigkeitsempfinden der Menschen und der Rechtsprechung als solcher. So war für die Allermeisten Grünenthal klar schuldig, die Taten der Firma im höchsten Maße verwerflich, die Geschädigten müssten entschädigt werden. Juristisch gesehen ging es jedoch darum, konkrete Rechtsverstöße, die für die Schädigungen ursächlich waren, nachweisen zu müssen – und dies war sehr schwierig

 

Was machte das Unterfangen zu einem, wie Sie sagen, „Monsterprozess“?

Es gab verschiedene Gründe, warum es sich so hinzog und ausuferte. Zum Beispiel die Art der Beweisführung. So hat man in der Medizin oft statistisch argumentiert, statistische Beweisführungen gibt es vor Gericht aber eigentlich nicht. Eine der großen Herausforderungen war es daher, die medizinische Beweisführung in eine juristische zu übersetzen. So gesehen sind nicht nur verschiedene Kulturen des Rechtsempfindens, sondern auch der Beweislogiken aufeinandergetroffen.

Hinzu kamen verfahrensrechtliche Probleme: Alle Urkunden, Gutachten und Schriftstücke mussten zum Beispiel vorgetragen, ja vorgelesen werden. Auch das hat viel Zeit verschlungen. Im Laufe des Verfahrens fielen einige der Angeklagten wegen Verhandlungsunfähigkeit aus, einer starb. Auch Richter und Schöffen fielen aus. Der Prozess drohte zu platzen, wenn er noch längere Zeit weitergelaufen wäre.

Ein anderes großes Thema waren materialrechtliche Probleme. So ist ein Embryo keine Person im strafrechtlichen Sinne, weil sich sonst ein Widerspruch zum Abtreibungsrecht ergäbe. Wie ließ sich eine Schädigung des Embryos also strafrechtlich fassen? Auch hier musste gewissermaßen „übersetzt“, mussten teils neue Kategorien geschaffen werden.

 

Wie hat man sich beholfen?

In dem Fall hat die Staatsanwaltschaft unter anderem zur abenteuerlichen Konstruktion gegriffen und die eigentliche Körperverletzung bei der Mutter gesehen: Diese bestünde in dem Schock, den sie beim Anblick des fehlgebildeten Kindes nach der Geburt erführe. Letztlich wurde mit der Konstruktion gearbeitet, dass man eine Person durchaus schädigen könne, wenn diese noch gar nicht als juristische Person existiert, aber sich gewissermaßen „auf dem Weg dorthin“ befindet. Der Bundesgerichtshof hat eine solche Konstruktion aber später gekippt.

Der Vergleich kam letztlich auch deshalb zustande, weil die Verjährung drohte. Ab 1969 gab es Bestrebungen auf allen Seiten, das Verfahren einzustellen. Sofern Grünenthal bereit sei, irgendeine Form von Entschädigung zu zahlen. Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage waren an entsprechenden Verhandlungen beteiligt.

 

Nach Einstellung des Verfahrens Ende 1970 und aufgrund des Vergleichs zahlte Grünenthal. Sie haben im Zuge Ihrer Forschung auch Kontakt zu Betroffenen gehabt. Was haben Sie über diese Seite herausgefunden?

Mir erscheint es oft so, dass weniger die Einstellung des Verfahrens und der Vergleich das Problem waren, sondern eher, dass die Gelder aus dem Vergleich in die Conterganstiftung überführt und zu Stiftungsvermögen wurden. Viele haben das als eine rechtswidrige Enteignung wahrgenommen. Wieder seien es andere, die über das Geld entscheiden, das eigentlich in die Hände der Betroffenen gehöre. Inzwischen hat sich der ursprüngliche Widerstand wohl gelegt, auch weil die Renten signifikant erhöht wurden.  

Mir ist aufgefallen, dass die Menschen mit Conterganschädigung alle sehr unterschiedlich mit der Sache umgehen. Mir imponiert, wie manche von ihnen fast konstruktiv ihrem Schicksal entgegentreten und sagen: Es ist, wie es ist, machen wir das Beste draus. Ich habe viele Talente und mein Leben besteht nicht nur aus dem Thema Contergan. Das beeindruckt mich sehr.

 

Der Fall „Contergan“ hat vieles verändert - gesellschaftlich, politisch, medial. Was ist aus medizinisch-historischer Sicht dabei heute das Wichtigste?

Da lassen sich allgemeine und spezielle Veränderungen anführen, die der Conterganskandal gebracht hat.

Im Speziellen hat der Fall Contergan viel bewirkt. Er hat zu einer größeren Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Behinderung geführt, er hat das Bewusstsein für Umweltrisiken gestärkt, er hat dafür gesorgt, dass heute Arzneimittelsicherheit in weitaus größerem Maße gegeben ist.

Auch allgemein war der Contergan-Skandal sehr folgenreich. Er war sehr wichtig für die Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, weil er sowohl politisiert als auch mobilisiert hat. Medizin und Gesundheit wurden erstmals zu wichtigen politischen Themen. Wie sehr heutzutage Gesundheitsfragen die Politik prägen, lässt sich ja quasi in Echtzeit an der Corona-Pandemie nachverfolgen.

Außerdem gingen mit Contergan erstmals organisierte Gruppen von Betroffenen zusammen gegen einen Missstand vor und prozessierten. Der Bürger als solcher ist durch den Conterganskandal und seine Folgen mehr zu einem Souverän geworden.

 

LINK

Ein weiteres Interview, dass Herr Dr. Lenhart-Schramm für den Interessenverband Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen e. V. gegeben hat, finden Sie unter dem folgenden Link.

Der Conterganskandal, ein Historische Aufarbeitung in einem ausführlichen Interview

 

Foto: picture alliance / Horst Ossinger / Horst Ossinger