Auf dem Foto:  v.l.n.r.: Heinz-Günter Dickel, Margit Hudelmaier und Dieter Hackler (Vorstand der Conterganstiftung), Dr. Alexander Niecke (Leiter des Contergan-Zentrums), Bianca Vogel (Betroffene) und Prof. Dr. Christian Albus (Klinikleiter).

„Das seelische Leid der Betroffenen wurde lange nicht wahrgenommen“

Die im vergangenen Jahr gemeinsam von Vorstand, Geschäftsstelle und Betroffenenvertretungen des Stiftungsrates begonnene Besichtigungsreihe der Multidisziplinären medizinischen Kompetenzzentren wird in diesem Jahr fortgesetzt. Ziel aller Besichtigungen ist es, die zehn geförderten Einrichtungen persönlich in Augenschein zu nehmen und über laufende Arbeiten und Ziele im Dialog zu bleiben. Das CIP war in Köln dabei.

 

Uniklinik für Psychosomatik und Psychotherapie rechnet mit wachsendem Bedarf an psychologischer Hilfe

 

Zu den vorgeburtlichen Schäden durch Contergan kommen Spät- und Folgeschäden. Dies betrifft auch psychische Probleme, die im Alter verstärkt auftreten. Laut wissenschaftlicher Erhebungen der letzten Jahre haben Menschen mit Conterganschädigung einen etwa doppelt so hohen Bedarf an psychologischer Hilfe wie der altersgleiche Bevölkerungsdurchschnitt. Doch nur jede sechste Person aus dem Kreis der Betroffenen nimmt eine solche in Anspruch – deutlich weniger als in der Gesamtbevölkerung.

Diesem bestehenden Bedarf an psychologischer Betreuung begegnet die Psychotherapeutische Contergansprechstunde am Uniklinikum Köln bereits seit 2017. Seit letztem Jahr gehört die Einrichtung zu den zehn durch die Conterganstiftung geförderten Multidisziplinären Kompetenzzentren. Beim Ortstermin in Köln überzeugten sich Vorstand und Geschäftsstelle von der hohen Qualität des niederschwelligen therapeutischen Angebots für die Menschen mit Conterganschädigung.

 

Niecke: Psychologische Hilfe für Geschädigte – Warum jetzt erst?

 

Nach der Begrüßung durch Klinikdirektor Prof. Dr. Christian Albus stellte Dr. Alexander Niecke, Leiter der Psychotherapeutischen Contergansprechstunde, die Arbeit auf seiner Station vor und gab einen Einblick zum Stand der Forschung – auch der eigenen. Demnach führte unter anderem eine Kombination aus Geschichtsvergessenheit und der Einordnung der Thalidomid-Embroypathie als „seltene Erkrankung“ dazu, dass „das seelische Leid der Betroffenen lange nicht wahrgenommen“ wurde. Vielmehr habe der Fokus die ersten Jahrzehnte ausschließlich auf körperlichen Beschwerden sowie orthopädischer Hilfe gelegen, so Niecke. Zudem wüssten Ärztinnen und Ärzte – vom Internisten über die Orthopädie bis zu Therapeutinnen – in der Regel nichts über Contergan, den Skandal, seine Geschichte oder dessen medizinische Implikationen.

Zudem sei die Frage, ob Menschen begünstigt durch ihre vorgeburtliche Conterganschädigung womöglich öfter mit psychischen Problemen zu kämpfen hätten, gar nicht gestellt worden. Heute aber wisse man: Befunde wie Depression oder Angst sowie andere psychische Störungen sind bei Menschen mit Conterganschädigung etwa doppelt so häufig anzutreffen wie im gleichaltrigen Bevölkerungsdurchschnitt. Weil in der Kölner Uniklinik Vorwissen existiere, man sich an Forschungen beteilige und konkrete Angebote vor Ort gemacht würden, sei man die richtige Anlaufstelle für Betroffene mit Conterganschäden, die unter psychischen Störungen leiden würden.

 

Niederschwelligkeit und Kompetenz = Erfolg

 

Die Psychosomatik betrachtet die Zusammenhänge von körperlichen und seelischen Leiden. Das eine bedingt das andere bzw. ruft es hervor oder verstärkt es. Immer geht es dabei um den Erhalt von Lebensqualität, sagte auch Oberarzt Dr. Gernot Lentzen, der einen Einblick in die Ambulanz der Uniklinik gab. Am Standort Köln, im Gebäude des Evangelischen Krankenhauses (Weyertal), arbeitet eine Gruppe von 25 Therapeutinnen und Therapeuten in Teams zusammen und geht dabei multi-methodisch vor. Auf der Station gibt es Musik, Kunst- und Aufenthaltsräume sowie Gesprächs- und Begegnungszimmer. Mit dem hochqualifizierten, engagierten Team arbeiten Patientinnen und Patienten dann an der Reduzierung der Symptome und der Erhöhung der Lebensqualität. Eine stationäre Aufnahme erfolgt nur, wenn eine ambulante Behandlung nicht ausreichend erscheint.

Das Fazit aus der bisherigen Arbeit: „Psychotherapeutische Interventionen können die mentale Gesundheit von Menschen mit angeborenen und erworbenen Behinderungen des Stütz- und Bewegungsapparates verbessern.“

Erhellend war daher auch der Blick auf das konkrete Fallbeispiel einer Person mit Conterganschädigung, der von Therapeutin Celina von Tiele-Winckler gegeben wurde. Fast typisch erscheinen die Gründe für die Rat- und Hilfesuche angesichts der vielen Parallelen im Leben der Menschen mit Conterganschädigung: Probleme mit den Eltern und deren Selbstvorwürfen, Tabuisierung der Contergan-Historie, zunehmende Schmerzen, biografische Brüche und Lebenskrisen in zunehmendem Alter. Die eigentlichen Schädigungen und Schmerzen sind nie der alleinige Grund für auftretende und wachsende psychische Probleme. Zwar ist die Klientel durch viele Parallelen geeint. Biografisch und individuell läge jedoch jeder Fall anders.

 

Psychische Leiden erkennen, annehmen und Hilfe suchen

 

Erwartet wird daher ein Anstieg der Fälle und Befunde. Alle Betroffenen mit Conterganschädigung befinden sich heute im selben Alter. Daher sei es nahezu folgerichtig, dass „vieles auf einmal wegbröckelt“, wie die Betroffene Bianca Vogel es ausdrückte. Sie hat das Angebot als Patientin wahrgenommen und rät dazu, es ihr im Falle psychischer Leiden gleichzutun. „Mir geht es heute viel besser. Ich bin den Menschen hier im Kompetenzzentrum sehr dankbar“, sagte sie. 

Das Angebot am Kompetenzzentrum Köln steht allen, auch den Angehörigen von Betroffenen aus dem Bundesgebiet offen. Die Überweisung eines Arztes genügt für ein Erstgespräch.

 

Der Vorstand ist sehr zufrieden mit der Auswahl des Kompetenzzentrums

 

„Nach diesem Termin ist unsere Überzeugung noch gewachsen, dass die Hilfesuchenden mit Conterganschädigung in diesem Kompetenzzentrum in besten Händen sind!“, zog der Vorstandsvorsitzende der Conterganstiftung Dieter Hackler ein erstes Fazit. Man müsse die Menschen sensibilisieren und das Thema Psychologische Störungen entstigmatisieren, damit möglichst viele Betroffene das Angebot wahrnähmen. Vorstandsmitglied Margit Hudelmaier ergänzte: „Man muss nicht nur die körperliche Schädigung im Blick behalten, sondern auch die seelischen Schmerzen behandeln.“

Wir werden das Thema psychische Leiden in den kommenden Wochen hier im CIP in einem Themenschwerpunkt durch weitere Beiträge vertiefen.

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Interview mit Dr. Niecke

Ein weiterführendes Interview mit dem Leiter des Contergan-Zentrums am Universitätsklinikum Köln Dr. Alexander Niecke finden Sie auch hier im CIP.

 

Auf dem Foto:
v.l.n.r.: Heinz-Günter Dickel, Margit Hudelmaier und Dieter Hackler (Vorstand der Conterganstiftung), Dr. Alexander Niecke (Leiter des Contergan-Zentrums), Bianca Vogel (Betroffene) und Prof. Dr. Christian Albus (Klinikleiter). © Christian Wittke/Uniklinik Köln

 

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