Das Bild zeigt die Buchautorin Gunhild Krämer-Kornja auf dem Buchcover Ihres Buchs "Annerscht"

Annerscht in Allendorf

Gunhild Krämer-Kornja erzählt über ihr Leben in der hessischen Provinz, das behütete und dennoch nicht unproblematische Erwachsenwerden, den Kampfsport Jiu-Jitsu und warum sie vor einigen Jahren ein Buch über all das geschrieben hat.

 

Eigentlich hatte Gunhild Krämer-Kornja nicht vor, an ihrem Geburtsort Allendorf zu bleiben. Sie wollte raus in die Welt und auf keinen Fall einen Mann heiraten, der Fußball liebt. Es kam genau anders bzw. „annerscht“, wie man in der Gegend sagt. Die Frau mit Contergangschädigung ist ihrer hessischen Heimat treu geblieben. Wie „annerscht“ Krämer-Kornja außerdem ist, kann man nicht nur in ihrer Autobiografie nachlesen. Wir haben mit ihr über ihr Leben gesprochen.

„Ein Stadtleben kann ich mir heute nicht mehr vorstellen“, sagt Gunhild Krämer-Kornja. „Zwar hatte ich als junger Mensch geplant, von hier weg zu gehen. Doch hier habe ich alles, was ich brauche. Im Grunde ist es wunderbar.“ Hier, das ist das hessische Allendorf. Ein Ort mit 700 Seelen und dörfischem Charakter. Genau dies habe sich als ideal herausgestellt. „Man kennt hier alle. Es ist nicht anonym. Ich war ja von Geburt an bekannt wie der berühmte bunte Hund.“ Ein wichtiger Aspekt dabei: „Meine Mutter hat mich von Beginn an nicht versteckt und mich an allem teilhaben lassen, was andere Kinder auch machten.“

 

Wieder mal das „Zuckerplätzchen“

Die Conterganschädigung, mit der Gunhild Krämer-Kornja im April 1962 geboren wurde, betreffen äußerlich vor allem Hände und Arme. Ein Umstand, mit dem die Nachbarschaft zuerst nicht recht umzugehen wusste. Es war die berüchtigte „eine Tablette“, „harmlos wie ein Zuckerplätzchen“, eingenommen von der damals unwissentlich schwangeren Mutter - zu einem Zeitpunkt, als längst hätte klar sein müssen, das mit Contergan etwas nicht stimmte. So gehört Krämer-Kornja am Ende zu den spätesten mit Conterganschädigung Geborenen, bevor das Mittel endlich vom Markt genommen wurde.

Der Ort Allendorf wurde für die kleine Gunhild zu einem Heimatuniversum. „Ich konnte mich recht selbstständig entwickeln und meine Eigenständigkeit genießen, konnte alles machen, von Anfang an. Ich bin allein einkaufen gegangen, früher, als es hier noch viele Geschäfte gab. Die Ladenbesitzer und Dorfbewohner hatten ein Auge auf mich.“ Sie hatte nie den Eindruck, man wolle sie „wegschummeln“ oder beiseiteschaffen und fühlte sich integriert, ohne dass man damals den Begriff bemüht hätte.

 

Die richtige Schublade für Gunhild

„Damals war behindert gleichbedeutend mit geistig behindert“, erzählt die heute 58-jähige. Mit körperlichen Behinderungen wusste man nicht umzugehen. „Ich wollte unbedingt auf dieselbe Schule gehen, auf der auch meine Geschwister waren. Und dank meiner Mutter kam es so, dass ich die erste Behinderte auf einer Schule für Nichtbehinderte war.“ Der Schuldirektor sei damals der hilfreichen Ansicht gewesen: „Was die Gunhild nicht in den Händen hat, das hat sie eben im Kopf.“

Heute sei es üblich, Kinder in bereits vorhandene Schubladen zu stecken, ihr habe man damals eine Schublade gebaut, in die sie reinpasste. „Was man heute Integration nennt, kam damals weit besser zur Geltung. Man ging mehr vom Menschen und dessen Bedürfnissen aus“, resümiert Krämer-Kornja. Mit ihrer Grundschullehrerin hat sie bis heute noch Kontakt. Eben weil damals, in den drei Jahren gemeinsamer Grundschulzeit, etwas zwischen Schülerin und Pädagogin gewachsen sei, das heute kaum mehr möglich scheint.

Dennoch war die Zeit bis zur Einschulung eine Phase mit viel Abwesenheit durch Operationen und medizinischen Anpassungen: „Ich kam mit anderen Contergangeschädigten zusammen. Man versuchte, uns so gut wie möglich an das normale Leben anzupassen. Es gab ja keine Orientierung, die Krankheitsbilder waren ganz neu. Ich habe einige Operationen mitmachen müssen und etwa Schienen an den Armen getragen.“ Mit Hänseleien oder Ausgrenzung habe sie in der Schulzeit keine größeren Probleme gehabt. Die Zeiten früher waren allgemein sozialer, menschlicher, findet Krämer-Kornja.

 

Treten für das Selbstbewusstsein

Dennoch hat sie als Jugendliche mit dem Leben gehadert. „Als meine Freundinnen die ersten Liebschaften hatten und die Pubertät kam, da habe ich schon gedacht: dich will keiner“, erzählt sie. Wie sie aus dem Tal heraus kam? Auf der Verwaltungsschule fing sie durch Vermittlung einer Mitschülerin mit Jiu-Jitsu an. Der Kampfsport half ihrem Selbstbewusstsein. Beim Jiu-Jitsu hat sie es bis zum braunen Gürtel geschafft und den Sport bis zur Geburt ihrer Tochter praktiziert. Sportmachen bleibt weiterhin Teil ihres Lebens.

Nach den sportlichen Erfolgen klappte es auch mit dem anderen Geschlecht. „Als ich meinen späteren Mann kennenlernte, habe ich ihm klar gesagt, mich gibt es so wie ich bin oder gar nicht.“ Umgekehrt gilt es genauso, denn ein rundum Fußballbegeisterter wäre der letzte gewesen, den sie sich als Lebenspartner gewünscht hätte.

„Ich habe festgestellt, es ist entscheidend, dass und wie ich auf die Menschen zu gehe“, erläutert Krämer-Kornja. „Die Leute sehen mich, wollen mir vielleicht die Hand geben, sind aber verunsichert. Und das ist normal. Wenn ich ihrer Unsicherheit zuvorkomme, bricht das Eis viel schneller.“ Schon in frühester Kindheit sei das so gewesen. Die Mutter habe ihr vorgelebt, kein Geheimnis aus der Conterganschädigung zu machen, aktiv von sich aus auf die Menschen zuzugehen, immer alles zu erklären. Das habe die Akzeptanz enorm erleichtert. 

Für die Menschen etwas zu tun, war ihr Ansatz, in die Politik zu gehen und im Ortsverein der SPD tätig zu werden. Lange Jahre hatte sie ein Amt inne. Heute ist Krämer-Kornja zwar nach wie vor aktiv, wo sie kann. „Aber mit den Ämtern sollte man aufhören, solange die Leute noch gut über einen reden“, findet sie.

 

Keine Vorwürfe, kein Groll

Wie lebt sie heute? Vor vier Jahren verlor Krämer-Kornja ihren Mann, der an einem genetischen Herzfehler litt. Tochter und Enkelin wohnen über ihr im selben Haus. Die Knochen werden älter. Die körperliche Schädigung durch Contergan zeigt aufgrund von Folgeerkrankungen immer neue Seiten. „Meine sichtbare Conterganschädigung ist weniger problematisch, als es meine inneren waren.“ Bereits mit drei Monaten musste sie am Darm operiert werden.

Als Verwaltungsangestellte hatte sie Publikumsverkehr, Verantwortung, musste funktionieren – und wollte es vor allem. „Ich weiß, dass es anderen Contergangeschädigten genauso geht – wir wollen immer hundert, oft sogar hundertzehn Prozent geben. Und wenn dem was entgegensteht, ist das schlimm und schwer zu akzeptieren“, erläutert Krämer-Kornja. In Betroffenen-Verbänden sei sie nie aktiv gewesen. Erst seit Kurzem stehe sie in regelmäßigem und interessiertem Austausch mit dem Landesverband der Contergangeschädigten in Hessen. „Ich habe auch das anders gemacht, habe früher kaum Hilfen und finanzielle Unterstützung beantragt, wo es möglich gewesen wäre. Aber heute, wo ich langsam älter werde, weiß ich das immer mehr zu schätzen.“ Damals sei es ihr falscher Stolz gewesen. Als Behinderte würde sie sich bis heute nicht sehen.

Die Haltung, dass die Verursacher als Schuldige immer alles zu bezahlen hätten, teilt sie nicht. Jeder sei auch für das eigene Leben verantwortlich, finde sie und stellt klar: „Die Aktiven in der Firma Grünenthal tragen heute keine Schuld mehr. Sie haben eine gewisse Verantwortung im Umgang damit. Aber Schuld haben die, welche damals aus Geldgier gehandelt haben. Was ich jedoch heute aus meinem Leben mache, ist allein meine Sache und betrifft meine Entscheidungen.“ So sehen es allerdings nicht alle Menschen mit Conterganschädigung, wie sie weiß.

 

Wie es auch „annerscht“ geht

Über all das hat Gunhild Krämer-Kornja 2012 ein Buch geschrieben. „Annerscht“ (hochdeutsch: anders) kam zu ihrem 50. Geburtstag heraus: „Über meine Conterganschädigung ist alles sehr gut dokumentiert. Meine Mutter hat von Beginn an eine Art Tagebuch geführt. Sicher auch, um damit umgehen zu können. Darauf konnte ich zurückgreifen. Ebenso wie auf die vielen persönlichen Erlebnisse und Anekdoten.“ Immer mehr Fragen kamen: wie war denn das früher? Das Buch habe sie daher vor allem geschrieben, um heutigen Menschen Einblicke und Orientierung zu geben. Vor allem in Sachen sozialem Miteinander, Empathie und gegenseitiger Hilfe.

Ihr eigenes Aufwachsen und Leben sieht Krämer-Kornja nicht als Königsweg, aber als ein Beispiel des Möglichen. „Das heißt nicht, dass es einfacher war. Aber es war machbarer und, wie ich finde, insgesamt glücklicher.“ Und menschlicher. Man könne daher auch heute vieles „annerscht“ machen.

 

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